Trügerische Ruhe: auch eine Lehre von 1989 Ende der 1980er Jahre war das Bestehen von zwei deutschen Staaten, getrennt durch eine Mauer, bewacht von Soldaten, die das nicht erlaubte Übertreten mit Todesschuss bestraften, längst kein Skandal mehr. Dann schufen Kohl und Bush einen neuen Status quo. Doch ist dieser nur eine Stabilität auf Zeit?
Nicht zufällig geht es in vielen Erinnerungsprojekten zum dreissigsten Jahrestag des Falls der Berliner Mauer um die Frage, wo man gerade war, als man am 9. November die Nachricht hörte. Ein Tag, der sich in die individuelle Erinnerung eingebrannt hat. Etwas Unerhörtes, für unmöglich Gehaltenes passierte, und anschliessend war die Welt eine andere. Der Lauf der Geschichte änderte sich, der Fluss der Ereignisse wurde plötzlich umgelenkt, in neue Bahnen.
Der Fall der Mauer kam so überraschend, weil man sich schliesslich doch mit dem Status quo eingerichtet hatte. Was für viele Deutsche in Ost und West zunächst undenkbar war, eine Teilung des Landes mit einer Grenze, die nahezu undurchdringlich war, dazu noch die Existenz einer nur über Transitstrecken erreichbaren Enklave Westberlin, mitten im gegnerischen Territorium – das war 1989 längst zur Normalität geworden. Schon lange ging es nicht mehr um Revision, sondern nur noch um die möglichst erträgliche Gestaltung des Bestehenden: Das war der Kern von Willy Brandts Ostpolitik.
Nicht wenige Nachbarn und auch die Weltmächte waren zudem insgeheim der Meinung, dass die Teilung auch eine akzeptable Lösung der «deutschen Frage» war — der Frage also, wie deutsche Stärke und gelegentliche, potenziell ins Aggressive umschlagende Übermacht mit einem stabilen europäischen Staatensystem vereinbar waren.
Als die Mauer fiel, hatte man sich längst arrangiert. Wer in Westdeutschland die Teilung in Zweifel zog, war entweder ein rechter Ewiggestriger, ein bornierter Nationalist oder ein radikaler Linker, der die deutsche Neutralisierung anstrebte und damit die Westbindung – und damit verbunden die Wertebasis – des neuen Staates infrage stellte.
Die Teilung war zur Normalität geworden, an der die Deutschen nichts ändern konnten – war sie doch Folge der Konkurrenz der beiden Weltmächte –, an der sie aber auch immer weniger etwas ändern wollten. Auf beiden Seiten wuchsen Generationen auf, für die der Status quo selbstverständlich war, zumal sie ein geeintes Deutschland nur noch von Erzählungen der Älteren kannten.
So wie Österreich aus dem Kreis der deutschen Staatlichkeit durch die kleindeutsche Lösung 1871 ausgeschieden war, so waren jetzt zwei deutsche Staaten aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs wiederauferstanden.
Die Teilung, das Bestehen von zwei deutschen Staaten, getrennt durch eine Mauer, durch Stacheldraht, bewacht von Soldaten, die das nicht erlaubte Übertreten mit Todesschuss bestraften, war längst kein Skandal mehr. Das Unerhörte war nicht mehr die Existenz der Mauer, das Unerhörte war der Fall dieser Mauer. Mit einem Mal wurde die Geschichte, die man für beendet hielt, wieder geöffnet, geriet sie wieder in Fluss.
Mit einer konzertierten Aktion der Politik, einer Partnerschaft von Helmut Kohl und George Bush senior, wurden die Ereignisse in die Bahnen der raschen Wiedervereinigung gelenkt: ein vereintes Deutschland in EU und Nato. Ein neuer Status quo wurde hergestellt, der dem alten westdeutschen Status quo sehr ähnlich sah. Damit kehrte wieder Ruhe ein, eine neue Normalität.
Doch Ruhe kann trügerisch sein – das ist eine der Lektionen des 9. November 1989. Geschichte kann unerwartete Wendungen nehmen. Womöglich ist die Stabilität, die Helmut Kohl und George Bush senior begründeten, auch nur eine Ruhe auf Zeit.
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