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BeitragVerfasst: Mo 4. Jul 2022, 05:36 
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Ukraine-Konflikt: "USA und ihre Verbündeten hauptsächlich für dieses Unglück verantwortlich"


Das sagt der führende US-Politologe John J. Mearsheimer in einer aktuellen Analyse. Der Krieg in der Ukraine sei eine mehrdimensionale schreckliche Katastrophe, die sich absehbar verschlimmern werde.

In den letzten Wochen habe ich in Telepolis zum Ukraine-Krieg Stellung bezogen1 und dabei auch über die Positionen des renommierten US-Politologen John J. Mearsheimer informiert, der aus dem politologischen US-Establishment kommt, aber mir angesichts des fast kollektiven Wahnsinns unter den Intellektuellen im Westen als eine der ganz wenigen Stimmen der Vernunft erscheint.

Deshalb habe ich mich darüber gefreut, dass ich bei meinen Recherchen auf eine aktuelle umfassende Analyse über die Ursachen und Folgen des schrecklichen Krieges aus seiner Feder gestoßen bin2, die auf einem am 16.6.2022 von ihm an der Europa Universität in Florenz gehaltenen Vortrag beruht und die ich hier für die Telepolis-Leser übersetzt habe.

Die folgende Darstellung ist eine unbedeutend gekürzte Zusammenfassung der wichtigsten Argumentationslinien und Thesen von Mearsheimers Analyse. Nach einigen einführenden Bemerkungen von ihm ist diese in die folgenden Kapitel gegliedert:

Das konventionelle Wissen über den Ukraine-Konflikt;
Die wahren Ursachen der Ukraine-Krise;
Wo stehen wir heute & und wohin gehen wir?
Schlußfolgerungen.
Am Schluss dieses Artikels folgt ein kurzer Kommentar von mir.

Beginn der Übersetzung

Angesichts der Tatsache, dass die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten eine entscheidende Rolle bei den Ereignissen gespielt haben, die zum Ukraine-Krieg geführt haben – und jetzt eine zentrale Rolle bei der Führung dieses Krieges spielen – ist es angebracht, die Verantwortung des Westens für diese Katastrophe zu bewerten.

Mearsheimer sagt, er werde zwei Hauptargumente vorbringen:

Erstens: Es sind die Vereinigten Staaten, die hauptsächlich für die Verursachung der Ukraine-Krise verantwortlich sind.

Damit soll nicht geleugnet werden, dass Putin den Krieg begonnen hat und dass er für Russlands Kriegsführung verantwortlich ist. Es geht auch nicht darum zu leugnen, dass Amerikas Verbündete eine gewisse Verantwortung tragen, aber sie folgen weitgehend Washingtons Führung in der Ukraine.

Die zentrale Feststellung von Mearsheimer ist, dass die Vereinigten Staaten die Politik gegenüber der Ukraine vorangetrieben haben, die Putin und andere russische Führer als existenzielle Bedrohung betrachten, ein Punkt, auf den sie seit vielen Jahren wiederholt hingewiesen haben. Insbesondere spricht er von von Amerikas Besessenheit, die Ukraine in die Nato zu bringen und sie zu einem westlichen Bollwerk an der russischen Grenze zu machen.

Die Biden-Regierung war nicht bereit, diese Bedrohung durch Diplomatie zu beseitigen, und verpflichtete die Vereinigten Staaten 2021 erneut, die Ukraine in die Nato zu bringen. Putin reagierte mit einem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar dieses Jahres.

Zweitens: Die Biden-Regierung hat auf den Ausbruch des Krieges reagiert, indem sie ihre Maßnahmen gegen Russland verdoppelt hat.

Washington und seine westlichen Verbündeten sind entschlossen, Russland in der Ukraine entscheidend zu besiegen und umfassende Sanktionen anzuwenden, um die russische Macht stark zu schwächen.

Die Vereinigten Staaten sind nicht ernsthaft daran interessiert, eine diplomatische Lösung für den Krieg zu finden, was bedeutet, dass sich der Krieg wahrscheinlich noch Monate, wenn nicht Jahre, hinziehen wird. Dabei wird die Ukraine, die bereits schwer gelitten hat, noch größeren Schaden erleiden.

Im Wesentlichen haben die Vereinigten Staaten dazu beigetragen, die Ukraine auf diesen falschen Weg zu führen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass der Krieg eskaliert, da die Nato in die Kämpfe hineingezogen wird, und dass Atomwaffen eingesetzt werden.

Im Folgenden wird Mearsheimer seine Argumentation näher erläutern, beginnend mit einer Beschreibung der gängigen Meinung über die Ursachen des Ukraine-Konflikts.

1. Das konventionelle Wissen über den Ukraine-Konflikt
Im Westen wird allgemein und fest davon ausgegangen, dass Putin allein für die Verursachung der Ukraine-Krise und sicherlich des anhaltenden Krieges verantwortlich ist.

Ihm werden imperiale Ambitionen nachgesagt, das heißt, er ist bestrebt, die Ukraine und auch andere Länder zu erobern – alles mit dem Ziel, ein Großrussland zu schaffen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit der ehemaligen Sowjetunion hat.

Mit anderen Worten, die Ukraine ist Putins erstes Ziel, aber nicht sein letztes. Wie ein Wissenschaftler es ausdrückte, ist sein Handeln "auf ein unheimliches, lang gehegtes Ziel: die Ukraine von der Weltkarte zu löschen" gerichtet.

Angesichts der angeblichen Ziele Putins sei es durchaus sinnvoll, dass Finnland und Schweden der Nato beitreten und das Bündnis seine Truppenstärke in Osteuropa erhöht. Das imperialistische Russland muss schließlich eingedämmt werden.

Während dieses Narrativ in den Mainstream-Medien und von praktisch jedem westlichen Führer immer und immer wieder wiederholt wird, gibt es jedoch keine Beweise, auf die es sich stützen kann, sagt Mearsheimer.

Wenn die Anhänger des konventionellen Wissens angebliche Beweise liefern, dann stehen diese in nur geringem oder gar keinem Zusammenhang mit Putins Motiven für die Invasion der Ukraine.

Zum Beispiel betonen einige, dass er sagte, dass die Ukraine ein "künstlicher Staat" oder kein "realer Staat" sei. Solche undurchsichtigen Kommentare sagen jedoch nichts über sein Motiv aus, in den Krieg zu ziehen. Dasselbe gilt für Putins Aussage, er betrachte Russen und Ukrainer als "ein Volk" mit einer gemeinsamen Geschichte.

Andere weisen darauf hin, dass er den Zusammenbruch der Sowjetunion "die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts" nannte. Ja, aber Putin sagte auch:

Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie zurückhaben will, hat kein Hirn.

Wieder andere weisen auf eine Rede hin, in der er erklärte, dass "die moderne Ukraine vollständig von Russland oder, um genauer zu sein, vom bolschewistischen, kommunistischen Russland geschaffen worden sei". Aber wie er in derselben Rede in Bezug auf die heutige Unabhängigkeit der Ukraine sagte:

Natürlich können wir vergangene Ereignisse nicht ändern, aber wir müssen sie zumindest offen und ehrlich zugeben.

Um zu argumentieren, dass Putin entschlossen war, die gesamte Ukraine zu erobern und sie in Russland einzugliedern, ist es notwendig, Beweise dafür zu liefern, dass er erstens dachte, es sei ein wünschenswertes Ziel, dass er zweitens dachte, es sei ein machbares Ziel, und drittens beabsichtigte, dieses Ziel zu verfolgen.

Es gibt aber keine Beweise in den öffentlichen Aufzeichnungen, dass Putin darüber nachdachte, geschweige denn beabsichtigte, der Ukraine als unabhängigem Staat ein Ende zu setzen und sie zu einem Teil Großrusslands zu machen, als er am 24. Februar seine Truppen in die Ukraine schickte.

Tatsächlich gibt es dagegen signifikante Beweise dafür, dass Putin die Ukraine als unabhängiges Land anerkannt hat. In seinem Artikel vom 12. Juli 2021 über die russisch-ukrainischen Beziehungen, auf den Befürworter des konventionellen Wissens oft als Beweis für seine imperialen Ambitionen verweisen, sagt er dem ukrainischen Volk:

Sie wollen einen eigenen Staat errichten: Sie sind willkommen!

In Bezug darauf, wie Russland mit der Ukraine umgehen sollte, schreibt er:

Es gibt nur eine Antwort: mit Respekt.

Er schließt diesen langen Artikel mit den folgenden Worten: "Und was die Ukraine sein wird – es liegt an ihren Bürgern, darüber zu entscheiden." Es ist schwer, diese Aussagen mit der Behauptung in Einklang zu bringen, dass er die Ukraine in ein Großrussland integrieren will.


Bild: John Mearsheimer / CC-BY-SA-3.0
In demselben Artikel vom 12. Juli 2021 und erneut in einer wichtigen Rede, die er am 21. Februar dieses Jahres hielt, betonte Putin, dass Russland "die neue geopolitische Realität akzeptiert, die nach der Auflösung der UdSSR Gestalt angenommen hat". Er wiederholte denselben Punkt am 24. Februar ein drittes Mal, als er ankündigte, dass Russland in die Ukraine einmarschieren würde. Insbesondere erklärte er, dass "es nicht unser Plan ist, ukrainisches Territorium zu besetzen" und machte deutlich, dass er die ukrainische Souveränität respektiere, aber nur bis zu einem gewissen Punkt: "Russland kann sich nicht sicher fühlen, sich entwickeln und existieren, während es einer permanenten Bedrohung durch das Territorium der heutigen Ukraine ausgesetzt ist."

Im Wesentlichen war Putin nicht daran interessiert, die Ukraine zu einem Teil Russlands zu machen, schlussfolgert Mearsheimer. Putin war daran interessiert, sicherzustellen, dass es nicht zu einem "Sprungbrett" für die westliche Aggression gegen Russland werde, worauf noch näher einzugehen ist.

Der vielleicht beste Indikator dafür, dass Putin nicht darauf aus war, die Ukraine zu erobern und zu absorbieren, ist die militärische Strategie, die Moskau von Beginn des Krieges an angewendet hat. Das russische Militär hat nicht versucht, die gesamte Ukraine zu erobern.

Das hätte eine klassische Blitzkriegsstrategie erfordert, die darauf abzielte, die gesamte Ukraine mit gepanzerten Streitkräften, die von der taktischen Luftwaffe unterstützt werden, schnell zu überrennen.

Diese Strategie war jedoch nicht durchführbar, da es nur 190.000 Soldaten in Russlands Invasionsarmee gab, was eine viel zu kleine Streitmacht war, um die Ukraine zu besiegen und zu besetzen, die nicht nur das größte Land zwischen dem Atlantik und Russland ist, sondern auch eine Bevölkerung von über 40 Millionen hat.

Es überrascht nicht, dass die Russen eine Strategie mit begrenzten Zielen verfolgten, die sich darauf konzentrierte, Kiew entweder zu erobern oder zu bedrohen und einen großen Teil des Territoriums in der Ost- und Südukraine zu erobern. Kurz gesagt, Russland hatte nicht die Fähigkeit, die gesamte Ukraine zu unterwerfen, geschweige denn andere Länder in Osteuropa.

Wie ein Politikwissenschaftler der Universität von Chikago kürzlich bemerkt hat, ist ein weiterer bezeichnender Indikator für Putins begrenzte Ziele, dass es keine Beweise dafür gibt, dass Russland eine Marionettenregierung für die Ukraine vorbereitete, pro-russische Führer in Kiew unterstützte oder politische Maßnahmen verfolgte, die es ermöglichen würden, das gesamte Land zu besetzen und es schließlich in Russland zu integrieren.

Um dieses Argument noch einen Schritt weiter zu führen, haben Putin und andere russische Führer sicherlich aus dem Kalten Krieg gelernt, dass die Besatzung anderer Länderr im Zeitalter des Nationalismus immer ein Rezept für endlose Schwierigkeiten ist. Die sowjetischen Erfahrungen in Afghanistan sind ein eklatantes Beispiel für dieses Phänomen, aber relevanter für das vorliegende Thema sind Moskaus Beziehungen zu seinen Verbündeten in Osteuropa.

Was bedeutet das für die heutigen Ukraine? Aus Putins Aufsatz vom 12. Juli 2021 geht hervor, dass er damals verstand, dass der ukrainische Nationalismus eine mächtige Kraft ist und dass der Bürgerkrieg im Donbass, der seit 2014 andauerte, viel dazu beigetragen hat, die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine zu vergiften.

Er wusste sicherlich, dass Russlands Invasionstruppe von den Ukrainern nicht mit offenen Armen empfangen werden würde und dass es eine Herkulesaufgabe für Russland sein würde, die Ukraine zu unterwerfen, falls es die notwendigen Kräfte gehabt hätte, um das ganze Land zu erobern, was es aber nicht tat.

Schließlich ist es erwähnenswert, dass kaum jemand das Argument vorbrachte, dass Putin imperiale Ambitionen hatte, seit er im Jahr 2000 die Zügel der Macht in Russland übernahm, bis zum Ausbruch der Ukraine-Krise am 22. Februar 2014.

Tatsächlich war der russische Führer ein geladener Gast auf dem Nato-Gipfel im April 2008 in Bukarest, wo das Bündnis ankündigte, dass die Ukraine und Georgien schließlich Mitglieder werden würden. Aber Putins Widerstand gegen diese Ankündigung hatte kaum Auswirkungen auf Washington, weil Russland als zu schwach beurteilt wurde, um eine weitere Nato-Erweiterung zu stoppen, genauso wie es zu schwach gewesen war, um die Erweiterungswellen von 1999 und 2004 zu stoppen.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu beachten, dass die Nato-Erweiterungen vor Februar 2014 nicht darauf abzielte, Russland einzudämmen. Angesichts des traurigen Zustands der russischen Militärmacht war Moskau nicht in der Lage, eine revanchistische Politik in Osteuropa zu verfolgen.

Bezeichnenderweise stellt der ehemalige US-Botschafter in Moskau, Michael McFaul, fest, dass Putins Eroberung der Krim vor Ausbruch der Krise im Jahr 2014 nicht geplant war; es war ein impulsiver Schritt als Reaktion auf den Putsch, der den pro-russischen Führer der Ukraine stürzte.

Kurz gesagt, die Nato-Erweiterung sollte keine russische Bedrohung eindämmen, sondern war Teil einer umfassenderen Politik, um die liberale internationale Ordnung in Osteuropa zu verbreiten und den gesamten Kontinent wie Westeuropa aussehen zu lassen.

Erst als im Februar 2014 die Ukraine-Krise ausbrach, begannen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten plötzlich, Putin als gefährlichen Führer mit imperialen Ambitionen und Russland als ernsthafte militärische Bedrohung zu bezeichnen, die eingedämmt werden musste. Was hat diese Verschiebung verursacht?

Diese neue Rhetorik sollte einem wesentlichen Zweck dienen: den Westen in die Lage zu versetzen, Putin für den Ausbruch von Unruhen in der Ukraine verantwortlich zu machen.

Und jetzt, da sich die Krise in einen umfassenden Krieg verwandelt hat, ist es unerlässlich sicherzustellen, dass er allein für diese katastrophale Wendung der Ereignisse verantwortlich gemacht wird. Dieses Spiel der Schuldzuweisung erklärt, warum Putin hier im Westen weithin als Imperialist dargestellt wird, obwohl es kaum Beweise für diese Perspektive gibt.

2. Die wahren Ursachen der Ukraine-Krise
Mearsheimer stellt fest:

Die zentrale Wurzel der Krise ist der von den USA angeführte Versuch, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an Russlands Grenzen zu machen. Diese Strategie besteht aus drei Säulen: die Integration der Ukraine in die EU, die Umwandlung der Ukraine in eine pro-westliche liberale Demokratie und vor allem die Einbeziehung der Ukraine in die Nato.

Diese Strategie wurde auf dem jährlichen Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008 in Gang gesetzt, als das Bündnis ankündigte, dass die Ukraine und Georgien "Mitglieder werden".

Die russische Führung reagierte sofort mit Empörung und machte deutlich, dass sie diese Entscheidung als existenzielle Bedrohung ansah und nicht die Absicht hatte, eines der beiden Länder der Nato beitreten zu lassen. Laut einem angesehenen russischen Journalisten kam Putin "in Rage" und warnte:

Wenn die Ukraine der Nato beitritt, wird sie dies ohne die Krim und die östlichen Regionen tun. Sie wird einfach auseinanderfallen.

William Burns, der jetzt Chef der CIA ist, aber zum Zeitpunkt des Bukarester Gipfels der US-Botschafter in Moskau war, schrieb ein Memo an die damalige Außenministerin Condoleezza Rice, welches das russische Denken in dieser Angelegenheit kurz und bündig beschreibt.

In seinen Worten:

Der Beitritt der Ukraine zur Nato ist die hellste aller roten Linien für die russische Elite (nicht nur für Putin). In mehr als zweieinhalb Jahren Gesprächen mit wichtigen russischen Akteuren bis hin zu Putins schärfsten liberalen Kritikern habe ich noch niemanden gefunden, der die Ukraine in der Nato als etwas anderes als eine direkte Herausforderung der russischen Interessen betrachtet.

"Die Nato", sagte er, "würde gesehen werden ... als Hinwerfen des strategischen Fehdehandschuhs. Das heutige Russland wird reagieren. Die russisch-ukrainischen Beziehungen werden durch einen tiefen Frost gehen... Dieser Schritt wird einen fruchtbaren Boden für die russische Einmischung in die Krim und die Ostukraine schaffen."

Burns war natürlich nicht der einzige politische Entscheidungsträger, der verstand, dass die Aufnahme der Ukraine in die Nato mit Gefahren verbunden war.

Tatsächlich haben sich sowohl die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch der französische Präsident Nicolas Sarkozy auf dem Bukarester Gipfel 2008 dagegen ausgesprochen, die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine voranzubringen, weil sie verstanden, dass dies Russland alarmieren und verärgern würde.

Merkel erklärte kürzlich ihre Ablehnung:

Ich war mir sehr sicher, dass Putin das nicht einfach zulassen wird. Aus seiner Sicht wäre das eine Kriegserklärung.

Die Bush-Regierung kümmerte sich jedoch wenig um Moskaus "hellste rote Linie" und übte Druck auf die französische und deutsche Führung aus, einer öffentlichen Erklärung zuzustimmen, in der erklärt wurde, dass die Ukraine und Georgien schließlich dem Bündnis beitreten würden.

Es überrascht nicht, dass die von den USA angeführten Bemühungen, Georgien in die Nato zu integrieren, im August 2008 – vier Monate nach dem Bukarester Gipfel – zu einem Krieg zwischen Georgien und Russland führten.

Dennoch trieben die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten ihre Pläne, die Ukraine zu einer westlichen Bastion an den Grenzen Russlands zu machen, weiter voran. Diese Bemühungen lösten schließlich im Februar 2014 eine große Krise aus, nachdem ein von den USA unterstützter Aufstand den pro-russischen Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch, zur Flucht aus dem Land veranlasst hatte.

Er wurde durch den pro-amerikanischen Premierminister Arseniy Yatsenyuk ersetzt. Als Reaktion darauf eroberte Russland die Krim von der Ukraine und trug dazu bei, einen Bürgerkrieg zwischen pro-russischen Separatisten und der ukrainischen Regierung in der Donbass-Region der Ostukraine zu schüren.

Man hört oft das Argument, dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in den acht Jahren zwischen dem Ausbruch der Krise im Februar 2014 und dem Beginn des Krieges im Februar 2022 der Aufnahme der Ukraine in die Nato wenig Aufmerksamkeit geschenkt hätten.

Das Thema sei angeblich vom Tisch genommen worden, und so hätte die Nato-Erweiterung keine wichtige Ursache für die eskalierende Krise im Jahr 2021 und den anschließenden Ausbruch des Krieges Anfang dieses Jahres gewesen sein können.

Diese Argumentationslinie ist aber falsch. Tatsächlich bestand die westliche Antwort auf die Ereignisse von 2014 darin, die Anstrengungen bei der bestehenden Strategie zu verdoppeln und die Ukraine seit dieser Zeit noch näher an die Nato heranzuführen.

Die Nato begann 2014 mit der Ausbildung des ukrainischen Militärs und bildete in den nächsten acht Jahren durchschnittlich 10.000 Soldaten pro Jahr aus. Im Dezember 2017 beschloss die Trump-Regierung, Kiew mit "Verteidigungswaffen" auszustatten. Andere Nato-Länder schalteten sich bald ein und lieferten noch mehr Waffen in die Ukraine.

Das ukrainische Militär begann auch, an gemeinsamen Militärübungen mit Nato-Streitkräften teilzunehmen. Im Juli 2021 veranstalteten Kiew und Washington gemeinsam die Operation Sea Breeze, eine Marineübung im Schwarzen Meer, an der Marinen aus 31 Ländern teilnahmen und die direkt auf Russland abzielte.

Zwei Monate später, im September 2021, führte die ukrainische Armee das Manöver Rapid Trident 21 durch, den die US-Armee als "jährliche Übung zur Verbesserung der Interoperabilität zwischen verbündeten und Partnernationen" bezeichnete, um zu zeigen, dass die Einheiten bereit sind, auf jede Krise zu reagieren.

Die Bemühungen der Nato, das ukrainische Militär zu bewaffnen und auszubilden, erklären zu einem guten Teil, warum es im laufenden Krieg gegen die russischen Streitkräfte so gut abgeschnitten hat. Wie eine Schlagzeile im Wall Street Journal es ausdrückte:

Das Geheimnis des militärischen Erfolgs der Ukraine: Jahre der Nato-Ausbildung.

Zusätzlich zu den anhaltenden Bemühungen der Nato, die Kampfkraft des ukrainischen Militärs gewaltig zu steigern, änderte sich die Politik rund um die Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato und ihre Integration in den Westen im Jahr 2021.

Es entstand eine erneute Begeisterung für die Verfolgung dieser Ziele sowohl in Kiew als auch in Washington. Präsident Selenskyj, der vorher nie viel Begeisterung dafür gezeigt hatte, die Ukraine in die Nato zu bringen, und der im März 2019 auf einer Plattform gewählt wurde, die die Zusammenarbeit mit Russland zur Beilegung der anhaltenden Krise forderte, veränderte Anfang 2021 den Kurs um 180 Grad und begrüßte nicht nur die Nato-Erweiterung, sondern verfolgte auch einen harte Politik gegenüber Moskau.

Er unternahm eine Reihe von Schritten – darunter die Schließung pro-russischer Fernsehsender und die Anklage gegen einen engen Freund Putins wegen Verrats –, die Moskau mit Sicherheit verärgern würden.

Präsident Biden, der im Januar 2021 ins Weiße Haus einzog, hatte sich lange dafür eingesetzt, die Ukraine in die Nato zu bringen, und war auch Russland gegenüber ein Superfalke. Es überrascht nicht, dass die Nato am 14. Juni 2021 auf ihrem jährlichen Gipfel in Brüssel das folgende Kommuniqué veröffentlichte:

Wir bekräftigen die auf dem Bukarester Gipfel 2008 getroffene Entscheidung, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses werden wird, wobei der Aktionsplan für die Mitgliedschaft (MAP) integraler Bestandteil des Prozesses sein wird; wir bekräftigen alle Elemente dieser Entscheidung sowie nachfolgende Entscheidungen, einschließlich der Tatsache, dass jeder Partner nach seinen eigenen Verdiensten beurteilt wird. Wir stehen fest in unserer Unterstützung für das Recht der Ukraine, ihren eigenen zukünftigen und außenpolitischen Kurs frei von Einmischung von außen zu bestimmen.

Kommunique' des Brüsseler Nato-Gipfels am 14.6.2021
Am 1. September 2021 besuchte Selenskyj das Weiße Haus, wo Biden deutlich machte, dass die Vereinigten Staaten "fest entschlossen" seien, "den euro-atlantischen Bestrebungen der Ukraine" verpflichtet zu sein.

Am 10. November 2021 unterzeichneten Außenminister Antony Blinken und sein ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba ein wichtiges Dokument – die "US-Ukraine-Charta für strategische Partnerschaft". Das Ziel beider Parteien, so das Dokument, sei es, "zu unterstreichen ... ein Bekenntnis zur Umsetzung der tiefgreifenden und umfassenden Reformen, die für eine vollständige Integration in die europäischen und euro-atlantischen Institutionen erforderlich sind."

Dieses Dokument baut ausdrücklich nicht nur auf "den Verpflichtungen auf, die zur Stärkung der strategischen Partnerschaft Ukraine-USA zwischen den Präsidenten Selenskyj und Biden" eingegangen wurden, sondern bekräftigt auch das Bekenntnis der USA zur "Bukarester Gipfelerklärung von 2008".

Kurz gesagt, es gibt wenig Zweifel daran, dass sich die Ukraine ab Anfang 2021 schnell in Richtung Nato-Beitritt bewegte. Dennoch argumentieren einige Befürworter dieser Politik, dass Moskau nicht hätte besorgt sein sollen, denn "die Nato ist ein Verteidigungsbündnis und stellt keine Bedrohung für Russland dar".

Aber das ist nicht die Art und Weise, wie Putin und andere russische Führer über die Nato denken, und es ist das, was sie denken, was zählt. Es steht außer Frage, dass der Nato-Beitritt der Ukraine für Moskau die "hellste rote Linie" blieb.

Um dieser wachsenden Bedrohung zu begegnen, stationierte Putin zwischen Februar 2021 und Februar 2022 immer mehr russische Truppen an der ukrainischen Grenze. Sein Ziel war es, Biden und Selenskyj zu einem Kurswechsel zu zwingen und ihre Bemühungen um eine Integration der Ukraine in den Westen zu stoppen.

Am 17. Dezember 2021 sandte Moskau separate Briefe an die Biden-Regierung und die Nato, in denen es eine schriftliche Garantie forderte, dass:

die Ukraine der Nato nicht beitreten würde,
keine offensiven Waffen in der Nähe der russischen Grenzen stationiert würden,
Nato-Truppen und -Ausrüstung, die seit 1997 nach Osteuropa verlegt wurden, nach Westeuropa zurückverlegt würden.
Putin gab in dieser Zeit zahlreiche öffentliche Erklärungen ab, die keinen Zweifel daran ließen, dass er die Nato-Erweiterung in die Ukraine als existenzielle Bedrohung betrachtete.

In einem Gespräch mit dem Vorstand des Verteidigungsministeriums am 21. Dezember 2021 erklärte er:

Was sie in der Ukraine tun oder versuchen oder planen, geschieht nicht Tausende von Kilometern von unserer Staatsgrenze entfernt. Es ist vor der Haustür unseres Hauses.

Zwei Monate später sagte Putin auf einer Pressekonferenz am 22. Februar 2022, nur wenige Tage vor Kriegsbeginn:

Wir sind kategorisch gegen den Beitritt der Ukraine zur Nato, weil dies eine Bedrohung für uns darstellt, und wir haben Argumente, um dies zu unterstützen. Ich habe in diesem Saal immer wieder darüber gesprochen.

Er machte dann deutlich, dass er zur Kenntnis nehme, dass die Ukraine de facto Mitglied der Nato werde. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, sagte er, "pumpen die derzeitigen Kiewer Behörden weiterhin mit modernen Waffentypen voll". Er fuhr fort zu sagen, dass, wenn dies nicht gestoppt würde, Moskau "mit einem 'Anti-Russland' zurückgelassen würde, das bis an die Zähne bewaffnet ist. Das ist völlig inakzeptabel."

Putins Logik sollte für die USA absolut sinnvoll sein, die sich seit langem der Monroe-Doktrin verschrieben haben, die besagt, dass keine ferne Großmacht eine ihrer Streitkräfte in der westlichen Hemisphäre platzieren darf.

Ich möchte anmerken, dass es in allen öffentlichen Erklärungen Putins in den Monaten vor dem Krieg keinen Hauch von Beweisen dafür gibt, dass er darüber nachdachte, die Ukraine zu erobern und sie zu einem Teil Russlands zu machen, geschweige denn zusätzliche Länder in Osteuropa anzugreifen.

Andere russische Führer – darunter der Verteidigungsminister, der Außenminister, der stellvertretende Außenminister und der russische Botschafter in Washington – betonten ebenfalls die zentrale Bedeutung der Nato-Erweiterung für die Verursachung der Ukraine-Krise. Außenminister Sergej Lawrow brachte es auf einer Pressekonferenz am 14. Januar 2022 auf den Punkt, als er sagte:

Der Schlüssel zu allem ist die Garantie, dass die Nato nicht nach Osten expandieren wird.

Dennoch scheiterten die Bemühungen von Lawrow und Putin, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten dazu zu bringen, ihre Bemühungen aufzugeben, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an der russischen Grenze zu machen.

Staatssekretär Antony Blinken reagierte auf die Forderungen Russlands Mitte Dezember mit den Worten: "Es gibt keine Veränderung. Es wird keine Änderung geben." Putin startete dann eine Invasion der Ukraine, um die Bedrohung zu beseitigen, die er von Seiten der Nato sah.

3. Wo stehen wir heute & wohin gehen wir?
Der Ukraine-Krieg tobt seit fast vier Monaten. Mearsheimer wird nun einige Bemerkungen darüber machen, was bisher passiert ist und wohin der Krieg führen könnte.

Er wird dabei drei spezifische Themen ansprechen:

die Folgen des Krieges für die Ukraine;
die Aussichten für eine Eskalation – einschließlich der nuklearen Eskalation; und
die Aussichten, den Krieg in absehbarer Zeit zu beenden.
Er unterstreicht, dass dieser Krieg zunächst eine entsetzliche Katastrophe für die Ukraine ist. Wie bereits erwähnt, hat Putin 2008 deutlich gemacht, dass Russland die Ukraine zerstören würde, um sie daran zu hindern, der Nato beizutreten. Er löst dieses Versprechen jetzt ein.

Russische Streitkräfte haben 20 Prozent des ukrainischen Territoriums erobert und viele ukrainische Städte und Gemeinden zerstört oder schwer beschädigt. Mehr als 6,5 Millionen Ukrainer sind aus dem Land geflohen, während mehr als 8 Millionen Binnenvertriebene existieren. Viele Tausende Ukrainer – darunter unschuldige Zivilisten – sind tot oder schwer verwundet und die ukrainische Wirtschaft liegt in Trümmern.

Die Weltbank schätzt, dass die ukrainische Wirtschaft im Laufe des Jahres 2022 um fast 50 Prozent schrumpfen wird. Schätzungen gehen davon aus, dass der Ukraine ein Schaden von etwa 100 Milliarden Dollar zugefügt wurde und dass es fast eine Billion Dollar kosten wird, um das Land wiederaufzubauen. In der Zwischenzeit benötigt Kiew jeden Monat etwa 5 Milliarden Dollar an Hilfe, nur um die Regierung am Laufen zu halten.

Darüber hinaus scheint es wenig Hoffnung zu geben, dass die Ukraine ihre Häfen am Asowschen und Schwarzen Meer in absehbarer Zeit wieder wird nutzen können. Vor dem Krieg bewegten sich rund 70 Prozent aller ukrainischen Exporte und Importe – und 98 Prozent der Getreideexporte – durch diese Häfen.

Dies ist die Grundsituation nach weniger als vier Monaten Kampf. Es ist geradezu beängstigend, darüber nachzudenken, wie die Ukraine aussehen wird, wenn sich dieser Krieg noch ein paar Jahre hinzieht.

Wie sind nun die Aussichten, in den nächsten Monaten ein Friedensabkommen auszuhandeln und den Krieg zu beenden? Es tut mir leid zu sagen, dass ich keine Möglichkeit sehe, diesen Krieg in absehbarer Zeit zu beenden, eine Ansicht, die von prominenten politischen Entscheidungsträgern wie General Mark Milley, dem Vorsitzenden des JCS, und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg geteilt wird.

Der Hauptgrund für meinen Pessimismus ist, dass sowohl Russland als auch die Vereinigten Staaten zutiefst entschlossen sind, den Krieg zu gewinnen, und dass es unmöglich ist, ein Abkommen zu schließen, bei dem beide Seiten gewinnen.

Um genauer zu sein, besteht der Schlüssel zu einer Lösung aus russischer Sicht darin, die Ukraine zu einem neutralen Staat zu machen und die Aussicht auf eine Integration Kiews in den Westen zu beenden. Aber dieses Ergebnis ist für die Biden-Regierung und einen großen Teil des amerikanischen außenpolitischen Establishments inakzeptabel, weil es einen Sieg für Russland bedeuten würde.

Die ukrainische Führung hat natürlich Entscheidungsfreiheit, und man könnte hoffen, dass sie auf eine Neutralisierung drängen wird, um ihrem Land weiteren Schaden zu ersparen. Tatsächlich erwähnte Selenskyj diese Möglichkeit in den frühen Tagen des Krieges kurz, aber er verfolgte sie nie ernsthaft.

Es besteht jedoch kaum eine Chance, dass Kiew auf eine Neutralisierung drängen wird, da die Ultranationalisten in der Ukraine, die über beträchtliche politische Macht verfügen, kein Interesse daran haben, einer der Forderungen Russlands nachzugeben, insbesondere einer, die die politische Ausrichtung der Ukraine gegenüber der Außenwelt bestimmt. Die Biden-Regierung und die Länder an der Ostflanke der Nato – wie Polen und die baltischen Staaten – werden wahrscheinlich die Ultranationalisten der Ukraine in dieser Frage unterstützen.

Um die Sache noch komplizierter zu machen: Wie geht man mit den großen Teilen des ukrainischen Territoriums um, die Russland seit Beginn des Krieges erobert hat, sowie mit dem Schicksal der Krim?

Es ist schwer vorstellbar, dass Moskau freiwillig irgendetwas von dem ukrainischen Territorium aufgibt, das es jetzt besetzt hält, geschweige denn alles, da Putins territoriale Ziele heute wahrscheinlich nicht mehr die gleichen sind, die er vor dem Krieg hatte.

Gleichzeitig ist es ebenso schwer vorstellbar, dass ein ukrainischer Führer ein Abkommen akzeptiert, das es Russland ermöglicht, jedes eroberte ukrainische Territorium zu behalten, außer möglicherweise die Krim. Ich hoffe, ich irre mich, aber deshalb ist für mich kein Ende dieses ruinösen Krieges in Sicht.

Mearsheimer kommt jetzt auf die Frage der Eskalation zu sprechen und sagt, dass unter den Wissenschaftlern für Internationale Beziehungen weithin anerkannt ist, dass es eine starke Tendenz zur Eskalation langwieriger Kriege gibt.

Im Laufe der Zeit können andere Länder in den Kampf hineingezogen werden und das Ausmaß der Gewalt wird wahrscheinlich zunehmen. Das Potenzial dafür, dass dies im Ukraine-Krieg geschieht, ist real.

Es besteht die Gefahr, dass die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten in die Kämpfe hineingezogen werden, die sie bis zu diesem Zeitpunkt vermeiden konnten, obwohl sie bereits einen Stellvertreterkrieg gegen Russland führen.

Es besteht auch die Möglichkeit, dass Atomwaffen in der Ukraine eingesetzt werden und dies sogar zu einem nuklearen Schlagabtausch zwischen Russland und den Vereinigten Staaten führen könnte.

Der Grund, warum es zu diesen Ergebnisse kommen könnte, ist, dass für beide Seiten so viel auf dem Spiel steht, und daher keine der beiden Seiten es sich leisten kann zu verlieren.

Wie Mearsheimer bereits betont hat, glauben Putin und seine Militärs, dass der Beitritt der Ukraine zum Westen eine existenzielle Bedrohung für Russland darstellt, die beseitigt werden muss. In der Praxis bedeutet das, dass Russland seinen Krieg in der Ukraine gewinnen muss. Eine Niederlage ist inakzeptabel.

Die Biden-Regierung hingegen hat betont, dass ihr Ziel nicht nur darin besteht, Russland in der Ukraine entscheidend zu besiegen, sondern auch mit Sanktionen der russischen Wirtschaft massiven Schaden zuzufügen. Verteidigungsminister Lloyd Austin hat betont, dass das Ziel des Westens darin besteht, Russland bis zu dem Punkt zu schwächen, an dem es nicht wieder in die Ukraine einmarschieren kann.

Tatsächlich ist die Biden-Regierung entschlossen, Russland aus den Reihen der Großmächte zu verdrängen. Gleichzeitig hat Präsident Biden selbst Russlands Krieg in der Ukraine als "Völkermord" bezeichnet und Putin beschuldigt, ein "Kriegsverbrecher" zu sein, der nach dem Krieg einem "Kriegsverbrecherprozess" unterzogen werden sollte. Eine solche Rhetorik eignet sich kaum, um ein Ende des Krieges auszuhandeln. Denn wie verhandelt man mit einem völkermörderischen Staat?

Die amerikanische Politik hat zwei wesentliche Konsequenzen. Zunächst einmal verstärkt es die existenzielle Bedrohung, der Moskau in diesem Krieg ausgesetzt ist, erheblich und macht es wichtiger denn je, dass Russland sich in der Ukraine durchsetzt.

Gleichzeitig bedeutet dies, dass die Vereinigten Staaten sich zutiefst dafür einsetzen, dass Russland verliert. Die Biden-Regierung hat jetzt so viel in den Ukraine-Krieg investiert – sowohl materiell als auch rhetorisch –, dass ein russischer Sieg eine verheerende Niederlage für Washington bedeuten würde.

Offensichtlich können aber nicht beide Seiten gewinnen. Darüber hinaus besteht die ernsthafte Möglichkeit, dass eine Seite zu verlieren beginnt. Wenn die amerikanische Politik erfolgreich ist und die Russen auf dem Schlachtfeld gegen die Ukrainer verlieren, könnte Putin zu Atomwaffen greifen, um die Situation zu retten.

Die US-Direktorin des Nationalen Geheimdienstes, Avril Haines, sagte im Mai vor dem Senatsausschuss für Streitkräfte, dass dies eine der beiden Situationen sei, die Putin dazu bringen könnten, Atomwaffen in der Ukraine einzusetzen.

Für diejenigen, die dies für unwahrscheinlich halten, verweist Mearsheimer darauf, dass die Nato während des Kalten Krieges den Einsatz von Atomwaffen unter ähnlichen Umständen geplant hatte.

Wenn Russland Atomwaffen in der Ukraine einsetzen würde, ist es unmöglich zu sagen, wie die Biden-Regierung reagieren würde, aber sie würde sicherlich unter großem Druck stehen, Vergeltung zu üben, was die Möglichkeit eines Atomkriegs zwischen den Großmächten erhöht.

Mearsheimer schätzt die bedrohliche Situation in der Ukraine deshalb so ein:

Hier ist ein perverses Paradoxon im Spiel: Je erfolgreicher die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten bei der Erreichung ihrer Ziele sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Krieg nuklear wird.

Lassen Sie uns den Spieß umdrehen und fragen, was passiert, wenn die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten auf eine Niederlage zuzusteuern scheinen, was effektiv bedeutet, dass die Russen das ukrainische Militär vertreiben und die Regierung in Kiew Schritte unternimmt, um ein Friedensabkommen auszuhandeln, das so viel wie möglich vom Land retten soll.

In diesem Fall gäbe es großen Druck auf die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, sich noch tiefer in die Kämpfe einzumischen. Es ist nicht wahrscheinlich, aber durchaus möglich, dass amerikanische oder vielleicht polnische Truppen in die Kämpfe hineingezogen werden, was bedeutet, dass sich die Nato buchstäblich im Krieg mit Russland befinden würde.

Dies ist laut Avril Haines das andere Szenario, in dem sich die Russen Atomwaffen zuwenden könnten. Es ist schwierig, genau zu sagen, wie sich die Ereignisse entwickeln werden, wenn dieses Szenario eintritt, aber es steht außer Frage, dass es ein ernsthaftes Potenzial für eine Eskalation geben wird, einschließlich der nuklearen Eskalation. Die bloße Möglichkeit dieses Ergebnisses sollte uns allen Schauer über den Rücken jagen.

Es wird wahrscheinlich auch noch andere katastrophale Folgen dieses Krieges geben, auf die Mearsheimer aus Zeitgründen nicht im Detail eingehen kann. Zum Beispiel gibt es Grund zu der Annahme, dass der Krieg zu einer Welternährungskrise führen wird, in der viele Millionen Menschen sterben werden. Der Präsident der Weltbank, David Malpass, argumentiert, dass wir, wenn der Ukraine-Krieg weitergeht, mit einer globalen Nahrungsmittelkrise konfrontiert sein werden, die eine "menschliche Katastrophe" ist.

Darüber hinaus sind die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen so gründlich vergiftet worden, dass es viele Jahre dauern wird, sie zu reparieren. In der Zwischenzeit wird diese tiefe Feindseligkeit die Instabilität rund um den Globus schüren, vor allem aber in Europa.

Einige werden sagen, dass es einen Silberstreif am Horizont gibt: Die Beziehungen zwischen den Ländern des Westens haben sich durch den Ukraine-Krieg deutlich verbessert. Das gilt für den Moment, aber es gibt tiefe Risse unter der Oberfläche, und diese werden im Laufe der Zeit wieder hervorkommen. Zum Beispiel werden sich die Beziehungen zwischen den Ländern Ost- und Westeuropas wahrscheinlich wieder verschlechtern, wenn sich der Krieg hinzieht, weil ihre Interessen und Perspektiven auf den Konflikt nicht die gleichen sind.

Schließlich schadet der Konflikt der Weltwirtschaft bereits in erheblichem Maße, und diese Situation wird sich mit der Zeit wahrscheinlich noch verschlimmern. Jamie Diamond, der CEO von JPMorgan Chase, sagt, wir sollten uns auf einen wirtschaftlichen "Hurrikan" einstellen.

Wenn er Recht hat, werden diese wirtschaftlichen Schocks die Politik jedes westlichen Landes beeinflussen, die liberale Demokratie untergraben und ihre Gegner sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite stärken.

Die wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Krieges werden sich auf Länder auf der ganzen Welt erstrecken, nicht nur auf den Westen. Wie die Vereinten Nationen es in einem Bericht ausdrückten, der erst letzte Woche veröffentlicht wurde:

Die Welleneffekte des Konflikts dehnen das menschliche Leid weit über seine Grenzen hinaus. Der Krieg in all seinen Dimensionen hat eine globale Krise der Lebenshaltungskosten verschärft, die seit mindestens einer Generation nicht mehr zu beobachten war, und gefährdet Leben, Lebensgrundlagen und unsere Bestrebungen nach einer besseren Welt bis 2030.

4. Schlussfolgerungen
Einfach ausgedrückt, ist der anhaltende Konflikt in der Ukraine eine kolossale Katastrophe, die, wie Mearsheimer zu Beginn seines Vortrags festgestellt hat, Menschen auf der ganzen Welt dazu bringen wird, nach ihren Ursachen zu fragen.

Diejenigen, die an Fakten und Logik glauben, werden schnell feststellen, dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten hauptsächlich für dieses Unglück verantwortlich sind.

Die Entscheidung vom April 2008, die Ukraine und Georgien in die Nato aufzunehmen, musste zu einem Konflikt mit Russland führen. Die Bush-Regierung war der Hauptarchitekt dieser schicksalhaften Wahl, aber die Obama-, Trump- und Biden-Administrationen haben diese Politik auf Schritt und Tritt gefördert und Amerikas Verbündete sind dem Beispiel Washingtons pflichtbewusst gefolgt.

Obwohl die russische Führung eindeutig klarstellte, dass mit der Aufnahme der Ukraine in die Nato "die hellste rote Linie" überschritten werden würde, weigerten sich die Vereinigten Staaten, den grundlegenden Sicherheitsbedenken Russlands Rechnung zu tragen, und gingen stattdessen zielgerichtet und unermüdlich vor, um die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an der russischen Grenze zu machen.

Die tragische Wahrheit ist, dass, wenn der Westen nicht die Nato-Erweiterung in die Ukraine verfolgt hätte, es unwahrscheinlich gewesen wäre, dass es heute einen Krieg in der Ukraine geben würde und dass wahrscheinlich die Krim immer noch Teil der Ukraine wäre.

Im Wesentlichen hat Washington die zentrale Rolle dabei gespielt, die Ukraine auf den Weg in die Zerstörung zu führen. Die Geschichte wird über die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten für ihre bemerkenswert törichte Politik gegenüber der Ukraine ein hartes Urteil fällen.

Ende der Übersetzung

Abschließender Kommentar
Der vorliegende Text ist eine klarsichtige und mutige Anayse des renommierten US-Politologen John J. Mearsheimer über die Vorgeschichte und die Ursachen des Ukraine-Kriegs und dessen schreckliche und für uns alle höchst bedrohliche Folgewirkungen.

Eine realistische Betrachtungsweise des seit mindestens 2008 schwelenden Konflikts zeigt unmißverständlich, dass der Westen und insbesondere die USA die Hauptverantwortung für diesen Konflikt tragen.

Eine Konsequenz, die jede Frau und jeder Mann, die/der das selbständige Denken nicht vollends aufgegen hat, daraus ableiten kann, ist, dass in diesem Krieg nicht "wir" (der Westen, die USA, die Ukraine) die "Guten" und die Anderen (Putin, Russland) die "Bösen" sind.

Der Militärexperte und ehemalige Brigadegeneral Erich Vad stellte vor einigen Monaten treffend fest, dass man den Krieg vom Ende her denken müsse. Wenn wir den 3. Weltkrieg nicht wollen, müssen wir sobald wie möglich aus der Eskalationslogik aussteigen und eine Verhandlungslösung unterstützen und durchsetzen.

Der Bundesausschuß Friedensratschlag hat dafür in einem ausführlichen und differenzierten Positionspapier vom Juni 2022 lang ersehnte beachtenswerte Vorschläge für eine Lösungsperspektive des Ukraine-Krieges erarbeitet, für die es sich in Deutschland und anderwo im Rahmen der Friedensbewegung zu kämpfen lohnt.

Die Lieferung von immer mehr tödlichen Waffen in die Ukraine gehört jedenfalls nicht dazu, sondern ein ernsthaftes diplomatisches Engagement für eine Deeskalation und eine Verplichtung der Ukraine zur Neutralität, wie es zwischen 1991 und 2014 in ihrer Verfassung verankert war.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkrieges und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de

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„Verunglimpfungen sind für den, der sie ausspricht, schimpflicher als für den, dem sie gelten“. :jahaaa
(Plutarch von Chäronea)


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