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 Betreff des Beitrags: VON EINER HARZER KIEPENFRAU
Ungelesener BeitragVerfasst: So 25. Dez 2022, 11:14 
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VON EINER HARZER KIEPENFRAU

Einmal wollte ich eine Harzer Kiepenfrau – welche manch einer spöttisch, ein anderer liebevoll als Harzer Kamel bezeichnet – auf ihrem alltäglichen Weg durch den Harz begleiten und konnte es anfangs nicht recht glauben, was sich mir da für ein Bild anbot: eine alte, scheinbar gebrechliche Frau, wohl um die 60 Jahre und mehr, stellte sich mir als Führerin vor. Sie trug bunte Gewänder, ein Kopftuch, selbst gehäkelt, wie sie stolz berichtete und schickte sich gerade an, eine Kiepe auf ihren Rücken zu bringen, die ebenso groß schien, wie sie selbst. Prall gefüllt war das Ding mit Lebensmitteln und Medikamenten, die hoch in den Harz gebracht werden mussten, um die Köhler im Walde und die Menschen in den abgelegenen Harzdörfern zu versorgen. Natürlich gedachte ich, mich als Gentleman anzubieten und die Kiepe zu schultern. Wie ich sie aber anheben wollte, versagten mir die Muskeln und auch die Lust, mich als Helfer aufzuspielen. Kurzum: ich ließ es bleiben und sah mit Erstaunen, wie geschickt die Alte in die Kiepe rutschte und diese mit einem Ruck in die Höhe bekam. Meine Verwunderung weckte in ihr scheinbar ein kindliches Vergnügen, denn sie sprach: „Jungchen, können wir endlich los, oder soll ich dich noch obendrauf laden?“

Wahrlich, es ging über Stock und Stein, abseits der großen Wege und ich hatte Mühe an ihr dranzubleiben. „Gute Frau, wie macht ihr das in eurem Alter?“, keuchte ich völlig außer Atem und sie verriet mir eines ihrer Geheimnisse: „Siehst du dieses Pflänzlein, es ist der Beifuß. Legst du dir einige seiner Blätter in den Schuh, erschöpfen die Beine nicht. Das Zauberkraut hilft dir schneller zu gehen und länger munter zu bleiben.“ – „Und wenn du doch eine Pause brauchst, in welcher Hütte schläfst du?“, bohrte ich weiter nach. „In einer Hütte?“, lachte sie, „ich ruhe im Tann, bette mich ins Moos und lasse den Wind mein Schlaflied pfeifen!“ – „Ja, aber fürchtest du dich nicht, vor wilden Tieren, vor Räubern, … vor Hexen?“, hör ich mich noch heute ungläubig fragen. –

„Nicht, solange ich den Beifuß hab‘! Wenn Angst aufkommt und manchmal gibt es guten Grund im Harz Angst zu haben, dann lausche ich meinem Bauchgefühl, suche mir rasch einen Ort an dem Beifuß wächst und knie mich dort nieder. Eine Räuberbande lief so einmal an mir vorüber – für sie war ich unsichtbar. Freilich, Hexen oder Aufhucker lassen sich so einfach nicht narren.
Hier heißt es, getrockneten Beifuß rasch zu entzünden und sich selbst einzuräuchern, das vertreibt die dunklen Gesellen. Kein böser Blick und kein Zauberwort, kann dir die Seele färben, keine Berufung dir anhängen, wenn du im Schutz dieses Berufkrauts stehst. Kommt hingegen die Wilde Jagd oder komme ich an einem Elbenplatz vorbei, dann lasse ich zum Dank etwas Beifuß zurück und wünsche mir reines Wegeglück – damit bin ich bisher immer gut durch den Harz gefahren.“ – „Also mir legt sich die Angst vor dem dunklen Walde und dem Nebel, der dort aufkommt und jene Felsen so gespenstisch bemalt und vorm Knacken hinter mir ganz schön auf die Brust. Es fröstelt mich vor Furcht!“

„Ach Jungchen, wir kommen da vorn an einer Hütte vorbei, da kannst du ruhen und dir ein Beifuß-Fußbad gönnen. Du wirst sehen, das zieht alle Angst aus dir heraus, wäscht alle Berufung von dir ab. Ich ziehe dann derweil weiter, bin zu langsam mit dir!“, sagte die Alte grinsend. Ich musste zugeben, dass das wohl besser für uns beide war, denn ich war völlig außer Atem nach dem Aufstieg, während sie an jeder Weggabelung etwas gelangweilt auf mich wartete. „Schade, dass sich unsere Wege hier trennen“, gestand ich ihr, „ich hätte gerne noch Vieles gelernt!“ – „Ach Jungchen“, sagte sie wieder, „sagte man nicht unten, du wärst selbst ein berühmter Gelehrter? Wie ist dein Name?“ – „Heinrich Heine“, sagte ich kleinlaut. „Nie gehört!“, sagte sie schmunzelnd, legte mir zum Abschied ein Geschenk in die Hand und sprach: „Du wirst deinen Weg durch den Harz schon machen, Vieles lernen auf Schritt und Tritt, doch denk nur daran: nimm den Beifuß mit!“
Dateianhang:
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(aufgeschrieben von Carsten Kiehne in "ZAUBERPFLANZEN - HEILIG & HEILSAM")

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Und sollte ich vergessen haben, jemanden zu beschimpfen, dann bitte ich um Verzeihung!
Johannes Brahms


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