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 Betreff des Beitrags: Advent
BeitragVerfasst: So 27. Nov 2022, 20:16 
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2. Advent

“Wie der alte Christian Weihnachten feierte”


Kind”, sagte am Vortage des Weihnachtsfestes meine gute Mutter zu mir, “Kind, geh, bring dem alten Christian seine Kuchenstolle und dies Paket. Sag, ich ließ` ihn schön grüßen, und er möchte das Fest und das neue Jahr gesund und ruhig verleben. Diesmal wär` zuviel Arbeit, ich könnt` nicht selber abkommen.”
Ich blickte etwas erstaunt und beunruhigt aus meinem Buche auf. Ich kannte den mürrischen alten Waldhüter recht gut; wie oft hatte ich mich als kleines Mädchen vor seinem großen, rostigen Schnurrbart gefürchtet, wenn er uns beim Beerensuchen auf verbotenen Plätzen überraschte und uns mit seinem Brummbass aufschreckte und davonjagte.

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Jetzt freilich hatten wir ihn nicht mehr zu fürchten, denn er war schon seit etwa zwei Jahren pensioniert. Mach dem Tode des alten Försters, dem er sehr ergeben war, hatte auch er um seine Entlassung gebeten. Das Reißen in den Füßen sei zu arg, meinte er, er könne nicht mehr stundenlang im Walde umherlaufen; und mein Vater, der Arzt im Städtchen war, hatte ihm das gewünschte Attest ausgestellt.Seitdem hatten wir einen neuen Förster und einen neuen Waldhüter, und beide nahmen es nicht so genau mit uns Kindern. Der alte Christian Merkenthin aber zog zur Witwe Klemm draußen in der Vorstadt, die dem Walde am nächsten lag, und ließ sich selten blicken.
Meine Mutter, der meine Unruhe nicht entgangen war, lächelte: “Geh nur, Kind, er ist in seiner Stube anders, als du ihn sonst kennst, und du bist schon groß und verständig genug, um deine Freude an dem prächtigen alten Mann zu haben.”
Ich nahm meinen Mut zusammen, als ich die gute Mutter so reden hörte, klappte mein Buch zu, langte Hut und Mantel vom Riegel und machte mich gehbereit.
“Wenn du dem Christian ein wenig Gesellschaft leisten willst, kannst du das gern tun”, sagte meine Mutter noch, indem sie mir sorglich die Pakete in den Arm legte, “um sechseinhalb Uhr wird beschert, da musst du wieder hiersein.”
Ich nickte still, sagte ihr lebewohl und ging mit leiser Neugier im Herzen und etwas Bangigkeit die Hauptstraße der Stadt hinunter.
Ich beschleunigte meine Schritte und war bald aus der Häuserreihe heraus.
Die Wiesen, die sich bis zum Waldrande ausbreiteten, lagen im tiefen Schnee, und auf den kahlen Ästen der Kirschbäume, die die Chaussee begrenzten, hockten und flatterten Hunderte von Krähen, die wohl vergebens nach Futter suchten.
An den beiden verschneiten Kornmühlen vorbei, die leise im Winde knarrten, kam ich mit rotgefrorener Nase und steifen Fingern endlich bei dem Häuschen der Witwe Klemm an, wo mich ein kleiner schwarzer Spitz mit wütendem Gebell ansprang. Die Frau des Hauses, die auf sein Kläffen herauskam, rief ihn zurück und maß mit großen Augen den unerwarteten Besuch. Auf meine Bitte führte sie mich jedoch bereitwillig die steile Holztreppe hinan auf den kleinen, mit frischem Sand bestreuten Flur, wo sie an eine der Türen klopfte. Ohne lange das Herein abzuwarten, öffnete sie, steckte den Kopf in die Spalte und meldete: “Eine kleine Jungfer wünscht Euch zu sprechen, Herr Merkenthin”, worauf sie die Tür weit aufsperrte und mit einem schnellen neugierigen Blicke verschwand.
Dichter Tabaksqualm umfing mich, als ich zögernd näher trat und die Tür hinter mir zuzog; und zuerst sah ich weiter nichts als die mir wohlbekannte, aufrechte Gestalt mit der Jagdjobbe und den hohen Wasserstiefeln, die er, wie ich sah, auch im Hause trug. Auf sein knurriges, doch nicht gerade unfreundliches: “Na, was bringst du denn?” kam ich mutig näher und legte mein Pakete auf den Tisch.
“Das schickt Euch Mutter, Herr Merkenthin, und Ihr möchtet es nicht übelnehmen, wenn sie diesmal nicht selber käme, es wäre zuviel im Hause zu tun.”

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Der Alte hatte unterdessen die Stolle ausgewickelt und die Strickjacke und die Strümpfe mit kritischen Blicken gemustert. Die Besichtigung schien zu seiner Zufriedenheit ausgefallen zu sein, denn er legte alles wie zärtlich unter den kleinen Tannenbaum, der auf einer weißen Serviette auf der Kommode stand, versenkte sich in die Betrachtung seiner Schätze oder hing sonst seinen Gedanken nach; jedenfalls schien er meine kleine Anwesenheit ganz vergessen zu haben.
Meine Augen hatten sich indessen an den Rauch gewöhnt, und ich ließ sie nun in dem kleinen Zimmer umherwandern.
Die Wand, an der ich lehnte, wurde fast ganz von einem großen schwarzen Ledersofa ausgefüllt, das mit seinem eingesunkenen Sitz und seinen breiten Armlehnen gewiss von Urgroßmutters Zeiten herstammte. Neben mir, auf einer der Lehnen, lag eine große graue Katze zusammengerollt und schlief. Ich streichelte ihr dickes Fell, da erhob sie sich langsam, machte einen Buckel und gab mir deutlich zu verstehen, dass sie noch mehr gestreichelt sein wollte. In demselben Augenblick flatterte etwas über mir, und als ich hochsah, kam ein größerer Vogel und setzte sich auf meine Schulter.
Der alte Christian drehte sich um und brummte: “Magst du Tiere leiden, kleine Doktorn?” Ich nickte eifrig und stand ganz still, um den kleinen Gast auf der Schulter nicht zu verscheuchen. Des Alten Stimme wurde jetzt etwas sanfter: “Ich mag eigentlich keine Vögel im Zimmer; was in den Wald gehört, soll im Walde bleiben, aber der Bengel will nicht wieder fort, trotzdem der gebrochene Flügel lange auskuriert ist. Es ist ein Star und ein kluger Vogel”, fügte er hinzu, und ich sah, wie seine Augen liebevoll nach dem Tierchen hinblickten.
Oh, mein Peter weiß schon, wie weit er gehen darf”, knurrte der Alte, “und allein lass` ich die beiden nicht, einer von ihnen spaziert in die Küche, wenn ich fortgehe; aber nun setz dich doch auf das Sofa, du hast einen weiten Weg gehabt in der Kälte, ich will dir was Warmes zu trinken holen.” Er verschwand durch die Tür, und ich streichelte abwechselnd den Vogel, der ruhig auf meiner Schulter blieb, und die Katze, die sich wohlig an meinem Ärmel rieb. Eine geschnitzte Wanduhr tickte laut, und über mich kam ein warmes Gefühl von Heimlichkeit und Weihnachtsfreude. Die Tannenzweige, die hinter dem kleinen Spiegel über der Kommode steckten, und das mit weißen Lichtern geschmückte Bäumchen verbreiteten einen lieben Duft, selbst der Tabaksqualm kam mir nun recht gemütlich vor.
Christian kam mit einem Glase Grog aus der Küche; legte einen Pfefferkuchen auf ein vergoldetes Tellerchen, das er aus der obersten Kommodenschublade nahm, und reichte mir beides. Der alte Mann sah recht hilflos und ungeschickt dabei aus, aber mir gefiel es, und mein junges Herz fing an, den bärbeißigen Geber zu verstehen und zu lieben, wie nur Kinder lieben können, schnell und unmittelbar. Ich wollte ihm eigentlich sagen, dass uns solche Getränke verboten seien, fürchtete aber ihn zu kränken und schwieg. Tapfer trank ich die scharfe heiße Brühe, im stillen hoffend, dass meine Eltern es mir verzeihen würden. War ich doch damals schon zwölf oder dreizehn Jahre alt und begriff, dass Recht und Unrecht nicht so leicht zu sondern sind wie Äpfel und Nüsse, und dass man sein Herz so erziehen muss, dass es ohne große Mühe das kleinere Unrecht und das größere Recht herausfühlt.
Der alte Christian sah befriedigt zu, wie ich schluckweise trank und meinen Pfefferkuchen mit der Katze und dem Star teilte. Plötzlich sagte er: “Hast du Zeit, eine Stunde mit mir in den Wald zu gehen? Du kannst mir tragen helfen.” Ich nickte und sah ihn erwartungsvoll an. “Nun ja”, fuhr er fort, als er meine fragenden Augen sah, “nun ja, die Kreatur soll doch auch wissen, dass Weihnachten ist.” Damit nahm er den Starmatz von meiner Schulter, ging in die Küche, und ich hörte an seinem Zureden, dass er den Vogel in sein Bauer sperrte.
Mir brannten die Backen vor Freude; ich ahnte wohl, was der alte Waldhüter, der sein halbes Leben in Gemeinschaft mit den Tieren des Waldes zugebracht hatte, tun wollte, und ich war glücklich, dieser seltsamen Bescherung beiwohnen zu dürfen. War ich doch von klein auf daran gewöhnt, auch die Tiere als Gottesgeschöpfe zu betrachten, sie zu schonen und zu lieben, wie ein erwachsener Bruder seine unmündigen Geschwister schonen und lieben soll.
Als der alte Christian gleich darauf mit seiner Pelzmütze, den Wasserstiefeln und einem Sack über der Schulter wieder in die Wohnstube trat, glich er ganz und gar dem Weihnachtsmann aus dem Märchen, und ich ließ mir wie im Traum den vollgepackten Henkelkorb über den Arm hängen. Er nahm noch einen Spaten und mehrere Tannenzweige mit und schritt mir voran und die Treppe hinab. “Adjes, Frau Klemm”, rief er durch die halboffene Küchentür seiner Wirtin zu, “in ein bis zwei Stunden bin ich wieder da.” - “Gut, Herr Merkenthin”, klang es zurück, und ich ging und öffnete die Haustür.
Der Spitz ließ uns mit leisem Knurren passieren. “Die Menschen sind auch misstrauisch, warum sollte es das Viehzeug nicht sein”, sagte mein Begleiter, “ihm kommt noch mehr Übles zu als unsereinem”, und damit schritten wir der ungefähr eine Viertelstunde entfernten Schonung zu.
Die Sonne neigte sich schon tief nach Westen und stand wie eine dunkelrote Scheibe am Himmel; ein kühler Wind strich über die Felder. Wir mussten am Ortskirchhof vorbei, und mein Blick streifte die in tiefen Schnee gebetteten Gräber. Nie war ich bisher im Winter hierher gekommen; ich kannte den Kirchhof nur voller Grün und Blumen, und eine Ahnung von der Feierlichkeit alles Gewesenen streifte meine junge Seele.
Der alte Christian war stehengeblieben. “Warte ein paar Minuten”, sagte er, “ich bin gleich wieder hier.” Damit stellte er den Sack neben mich, nahm den Spaten und die grünen Zweige und verschwand hinter der eisernen Pforte. Ich sah ihm nach. Ein Schwarm Krähen flog bei seinem Eintritt in die Höhe, und ich verfolgte mit meinen Blicken die Vögel, wie sie krächzend dem Walde zuflogen.
Ob die Tiere auch etwas vom Tode wussten? ...
Aus dem Hause des Totengräbers, der ein Stück weiter die Straße hinauf wohnte, klang plötzlich doppelstimmig: “O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit”, und mein bewegliches Kinderherz streifte mit einem Lächeln die kleine Wehmut ab und wurde wieder hell und weihnachtsfröhlich, als gäbe es keine Kirchhöfe und keine hungrigen Krähen mehr auf der Welt.
Jetzt kam auch der alte Christian zurück, aber ohne die grünen Zweige. “Hab` meiner guten Frau und der kleinen Käte da drin bloß sagen wollen, dass ich am Weihnachtsabend an sie denke”, brummte er, nahm ohne mich weiter anzusehen seinen Sack auf und ging etwas schneller als vorher dem Walde zu.

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Ich ließ ihn vorausgehen und horchte auf den Klang des Weihnachtsliedes, der noch eine ganze Weile mit uns mitging; mir war, als wäre ich in der Kirche. Ich hätte dem alten Manne, der seine liebsten Menschen hatte begraben müssen und nun allein unter dem Weihnachtsbaum stehen würde, so herzlich gern etwas Liebes gesagt; aber ich wusste nicht, wie ich das beginnen sollte, und so ging ich schweigend hinter ihm her. Unvermutet kam mir da meine liebe Mutter in den Sinn; ich begriff, warum sie gerade dem alten Christian heut eine Herzensfreude bereiten wollte, und eine große Dankbarkeit überkam mich, ein neues schönes Gefühl von Liebe und Erkenntnis.
Der Wald, der sich jetzt vor uns ausbreitete, kam mir in seiner weißen Einsamkeit fast schöner vor als im Sommer. Der Wind hatte sich gelegt, wir hörten nur den weichen Ton unserer Schritte und dann und wann ein leises Knacken im Holze, das von dürren Ästen herrührte, denen die Schneelast zu schwer geworden war.
Christian bleib stehen: “Nun wollen wir unsere Weihnachtstische herrichten”, sagte er, nahm seinen großen Sack von der Schulter und band ihn auf. Was da nicht alles zum Vorschein kam! Hammer und Zange, Bindfaden und Nägel, Messer und Schere; und wozu er wohl alle die Strohmatten und zugespitzten Stäbe brauchen würde, die er aus den Tiefen des Sackes hervorholte. Meine Neugierde sollte bald gestillt werden, denn ich musste meinen Korb hinsetzen und ihm bei seiner wunderlichen Arbeit behilflich sein.

Da, wo dichtes Astwerk den Schnee abgefangen hatte, so dass der Boden nur wenig damit bedeckt war, bauten wir unsere Speisekammern. Zwei Ecken einer Matte banden wir etwa meterhoch an einem Baumstamm fest, während die beiden anderen Ecken auf zwei in der Nähe eingebohrten Pfählen befestigt wurden. So entstand ein gedeckter kleiner Raum, der den hungrigen Tieren gut zugängig war. Wir säuberten ihn vollends vom Schnee, und nun kam auch mein Korb und sein Inhalt an die Reihe. “Hier am Waldrand hält sich Meister Lampe gern auf”, sagte der alte Christian; dabei langte er Kohlblätter und Rüben aus dem Korbe, um sie dem Häschen aufzubauen und in etwas seinen Winterhunger zu stillen. “Es ist ein Jammer, wieviel Gutes unnütz auf dem Kehrichthaufen verkommt”, fügte er hinzu, “wo doch soviel dankbares kleines Gesindel in der Welt umherläuft; ja, ja, der Mensch denkt kaum an seinesgleichen, wie sollte er der Kreatur gedenken.” - Ich nickte ernsthaft und nachdenklich, und dann gingen wir weiter. Alle fünfhundert Schritt etwa schufen wir ein neues
Tischlein-deckdich. Aber nicht bloß für die Hasen, auch für die Vögel wurde liebevoll gesorgt. Futterkästen mit allerlei Samen, Sonnenblumen- und Kürbiskernen wurden in Ast und Strauch untergebracht; Talgklöße und Speckschwarten, ja ein paar Gänsegerippe und Bratenkeulen mussten sich die Bäume aufbinden lassen. “Die sind für die Meisen und Spechte, auch für die Rotkehlchen und das andere kleine Viehzeug, denen der Flug übers Meer zu weit ist”, meinte der Christian; “hoffentlich naschen ihnen die Krähen und Dohlen nicht das Beste weg. Aber die wollen ja auch leben”, fügte er leise hinzu, “auch dem Bösesten knurrt der Magen, ja, wenn der Hunger nicht wäre, wenn der Hunger nicht wäre!”
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So stapften wir weiter durch den dichten Schnee, und während unser Gepäck immer leichter wurde, wurden unsere Herzen immer heller und weihnachtsfreudiger, und ich weiß nicht, wie es kam, plötzlich war mir das schönste Lied auf den Lippen, und ich sang es leise vor mich hin:
“Es ist ein Reis entsprungen aus einer Wurzel zart ...”
Der Alte hörte andächtig zu, und als es zu Ende war, wiederholte er: “Mitten im kalten Winter - ja, mitten im kalten Winter, da blüht`s oft drinnen am besten auf, aber das wirst du noch nicht verstehen, kleine Doktorn.”
Nein, ich verstand es damals noch nicht, jedoch ich fühlte, dass der alte Christian was Liebes damit meinte, und fasste nach seiner alten runzligen Hand.
Das Schönste vom Tage sollten wir aber noch erleben. In einer Lichtung stand plötzlich ein großer Hirsch vor uns, und mehrere junge Hirsche und Hirschkühe kamen hinter ihm her. Er hob den Kopf mit dem schönen Geweih und sah uns klug und furchtlos an. Auf das leise Pfeifen des Alten kam er zutraulich näher und das ganze Rudel mit ihm. Wir warfen ihnen Brot und Kartoffeln zu, die sie sogleich verzehrten, ja, der große Hirsch wurde so dreist, dass er aus meiner ausgestreckten Hand ein Stück Brot nahm, und ihr könnt euch gewiss denken, wie sehr ich mich darüber freute.
“Es ist Schonzeit, da weiß die Kreatur, dass sie was riskieren kann”, brummte der Alte; aber auch aus seinen umbuschten grauen Augen zuckte die Freude über das hübsche Bild.
Das schrille Geläute eines Schlittens, der auf der nahen Landstraße daherkam, ließ unsere lieben Gäste jäh auffahren und die Flucht ergreifen. Ich sah ihnen bedauernd nach. “Sie finden schon wieder her, kleine Doktorn”, sagte Christian, “hier ist seit vielen Jahren ihr Futterplatz.”
Nun sah ich erst, dass etwa hundert Schritt von uns ein kleines festes Strohdach auf Pfählen aufgerichtet war und dass noch geringe Futterreste verstreut umherlagen. Mein Begleiter nahm aus dem Korbe reichlich Rosskastanien, Eicheln, getrocknete Lupinen und das noch übrige Brot und baute es dem Wilde als Weihnachtsgabe auf.
“Kommen die Rehe auch hierher?” fragte ich und hoffte im stillen, auch diesen hübschen Tieren nahbei sehen zu dürfen. “Nein, denen müssen wir woanders bescheren”, meinte der Alte, “die haben eine feine Nase und lieben den Hirschgeruch nicht. Und kiesätig ist die Bande auch”, fügte er hinzu, “wenn sie nichts Grünes mehr finden, fressen sie höchstens ein bisschen Korn und feines Heu, na, sie sollen auch ihr Teilchen kriegen. Aber aus der Hand werden sie dir wohl kaum fressen, du kleine Hexe, es ist ein furchtsamer Chor; komm, ich weiß die Stellen, wo sie gern äsen, sie sollen heute auch extra Leckeres haben.”
Wir gingen noch etwas tiefer in den Wald und fanden bald an einer ziemlich versteckten Lichtung Spuren von Rehwild und einen ähnlichen Futterplatz wie zuvor. Hier legen wir Korn und Heu nieder und verhielten uns eine Weile mäuschenstill; die kleinen Gäste wollten sich aber nicht blicken lassen.
“Morgen früh werden sie die Bescherung schon finden”, schmunzelte der Alte und band noch den Rest unserer Vorräte für die Vögel in die Bäume.

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Es war auch mittlerweile Zeit geworden, an den Heimweg zu denken.
Die Sonne war lange untergegangen, und nur der Schnee leuchtete uns aus dem Dickicht hinaus. Es war empfindlich kalt geworden, ich schlug den Mantelkragen hoch und steckte die fast erstarrten Hände in die Ärmel.
“Komm nur, kleine Doktorn”, tröstete mich mein Begleiter, “der Schneiderwirt wohnt nicht weit von hier, der hat einen feinen Schlitten, und hastenichtgesehen sind wir zu Hause, das wäre doch ein extra Weihnachtsspaß, wie?” Und damit zog er mich frierende kleine Person durch das Gewirr der Stämme auf nur ihm bekannten Pfaden vorwärts, und bald waren wir auf der Landstraße. Hier grüßte uns schon von weitem das grüne Licht einer Laterne, die zum Wirtshaus zum Bären gehörte. Peter Holtzen, ein früherer Schneider, hauste darin, und man nannte ihn in der ganzen Gegend den Schneiderwirt.

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Wir traten mit Behagen in die warme Wirtsstube, und die gute Mutter Holtzen zog mir gleich die nassen Schuhe und Strümpfe aus und hing sie über die Messinghaken, die in den riesigen grünen Kachelofen eingeschraubt waren. Meine nackten Füße steckte sie in warme Pantoffeln, brachte mir eine Tasse heiße Milch, und nach ein paar Minuten wusste ich nichts mehr von Frost und Kälte.
Der alte Christian trank ein Glas Warmbier, rauchte dazu sein Pfeifchen und plauderte mit Peter, dem Schneiderwirt, über die Schlachten bei Wörth und Sedan, und wie kalt es in jenem Winter gewesen war; ich hörte den beiden alten Soldaten mit Interesse zu.
“Bist `ne wackre Dirn”, sagte der alte Christian zu mir, als wir eine halbe Stunde später in dem hübschen Wirtsschlitten unter lustigem Geläute nach Hause fuhren, “bist `ne wackre Dirn, kleine Doktorn, ich ließ das Vater und Mutter extra bestellen und viele Grüße und schönen dank dazu!” Damit sprang er vor seiner Tür aus dem Schlitten, winkte noch mal mit der Pfeife, und der Kutscher fuhr weiter meinen elterlichen Hause zu.
Ich lief die Treppe hinauf und fiel meiner Mutter um den Hals. Mein Herz war zu voll; erst nach und nach konnte ich von allem erzählen. Aber nie zuvor hatten mir die Lichter am Tannenbaum so hell gestrahlt, und nie zuvor hatte ich Eltern und Geschwister so lieb gehabt wie an diesem Weihnachtsabend!
Zwischen dem alten Christian und mir entspann sich seit jenem Tage eine wirkliche Freundschaft, die bis zum Tode des alten Mannes dauerte. Oft saß ich an freien Nachmittagen in seinem Stübchen, las ihm die Zeitung vor oder beschäftigte mich mit seinen Haustieren, für die ich meist diesen oder jenen Leckerbissen bereit hielt.
Am Tage vor Weihnachten aber gingen wir regelmäßig in den Wald, um die Tiere zu füttern, und ich sammelte schon Wochen vorher für unsere Lieblinge.
Manch ein echtes und kluges Wort ist damals aus dem Munde des alten Christian in meine Seele geglitten und hat dort eigene Weihnachtskerzen angezündet, die hell und lieblich auf meinen Lebensweg leuchteten.
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1. Advent

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Der Stern der Mitte
Ein weiser Mann aus dem Morgenland hatte nach Jahren mühseliger Arbeit aus den Gesteinen der Erde
einen Stern zusammengesetzt, in dem die feinsten Kräfte des Lebens gebannt waren.
Was dem Weisen Schönes und Wertvolles begegnet war, hatte er in Kristallen verwandelt und dem Sterne eingefügt.
Als der Wunderstern vollendet war, ließ er auf der Landstraße, die von Mekka nach Medina führt,
eine prächtige Schau- und Kaufhalle errichten.
Hoch oben in der Kuppel befestigte er seinen Stern.
Um ihn her liefen goldene Lettern, die in einer fremden Sprache folgenden Spruch trugen:

Weib oder Mann,
sieh mich gläubig an,
dann leuchtet tief,
was verborgen schlief,
dann wird zum Kern der Dinge Gestalt,
dann wird zur Ohnmacht fremde Gewalt,
dann wird zum Helden das Kind, der Tor,
dann klimmt ein Mensch zu Gott empor!

Tausende von Wanderer kamen täglich durch die Wunderhalle und bestaunten die Pracht und die Schätze,
die der weise Mann darin aufgehäuft hatte.
Sie betasteten das künstliche Gitterwerk vor den Schaukästen, die farbenprächtigen Teppiche an den Wänden,
die herrlichen Sammlungen der Waffen und edlen Gesteine in den Nischen -
jedoch den Stern hoch oben in der Deckenwölbung sah niemand gläubig an.
Wohl streifte ab und zu ein halber blick den hellen Fleck, aber man hielt ihn für wertloses Glas,
und niemandes Auge blieb an ihm haften.
Immer kehrten die Blicke in die prächtige Halle unten zurück. Da hingen auch zwei große Bilder an den Wänden.
Vor diesen Bildern stand die Menge immer dichtgedrängt mit Staunen und Geflüster.

Das eine Bild stellte den Tod dar, wie er an einer langen Kette vorbeimarschierte und mit der Sense
einem Soldaten nach dem andern den Kopf abschlägt.
Die Soldaten aber - und das war grausig anzusehen - standen alle stramm wie auf dem Kasernenhof,
und die ihren Kopf noch hatten, machten die Augen zu.
Vorn, auf dem Feuer einer platzenden Granate, saß grinsend der Teufel und schwenkte sein rotes Fähnchen.

Das Bild auf der andern Seite war ein Gastmahl in einer offenen Veranda.
Eine Menge schöngeputzter Herren und Damen saßen da zu Tische.
Erlesene Speisen und edle Weine standen vor ihnen.
Sie aßen und lachten mit einander und warfen Knochen und Brotstücke über die Brüstung.
Draußen standen viele arme Leute und fingen die Broken auf; einige mit Hass in den Augen,
andere mit tiefer Verbeugung.
Daneben standen etliche, die sahen traurig oder ingrimmig zu, und einer ballte die Faust nach dem Tisch mit den Speisen.
Diese beiden Bilder zogen die Menschen immer wieder machtvoll an, aber der Weise aus dem Morgenland
sah kopfschüttelnd zu; die Halle war schon seit Jahren fertig, und
noch kein Pilger hatte den Stern der Decke gläubig angesehen.

Da kam eines Tages ein Findelkind der Armut in das Gewölbe.
Heimatlos und elternlos war der Knabe ausgezogen, aber Augen waren voll Sonne und sein Herz voll Güte.
Er sang in den blauen Himmel hinein, und sein trocknes Brot mundete ihm wie köstliches Manna.

Ehrfurchtsvoll trat er in das hohe Tor, ließ seine staunenden Blicke langsam durch das Gewölbe gleiten
und sah entzückt auf zur Kuppel.
Da war ihm, als ob das ganze Bauwerk fern oben in der Mitte zusammenfloss, und als ob sich goldne Ströme
in langen Bahnen aus dem leuchtenden Sterne in die Halle zurückergössen.
Immer wieder sah er hinab - hinauf - seine Augen wurden weit vor staunender Erkenntnis,
und wie zum Gebet schlossen sich seine Hände.
Da erfüllte sich das Wunder, das den Sterne innewohnte:
Er fing an sich zu drehen und dem Knaben sein verborgenes Farbenspiel zu zeigen.
Weich und glühend dehnten sich seine bunten Kreise durch das Gewölbe; und was sie berührten,
wurde von eigenem Leben erfüllt oder kristallen durchsichtig und offenbarte dem Beschauer sein innerstes Wirken.
Da faltete der einsame Knabe gläubig die Hände und betete: "Gelobt sei Gott!"

Wie ein Träumender ging er zuerst durch das Gewimmel der anderen Pilger; sie wichen scheu vor ihm, er aber merkte es nicht.
Bald jedoch erfüllte sich die Verheißung des Weisen an ihm; es war, als ob ein geheimes Licht
in Menschen und Dinge hineinleuchtete.
So sah er vieles, was den andern verborgen war, und was er selbst nie vorher gesehen hatte.
Auch die Bilder in der Halle sah er mit neuen Augen.
Auf dem Bilde mit den geköpften Soldaten erblickte er hinter allen Greueln den Friedensengel;
und auf dem Bilde der Reichen und Armen sah er den Geist der Gerechtigkeit, der eben das Schwert
aus der Scheide zog.
Fern aber zwischen beiden Bildern, tat sich ihm die Wand auf, und er sah ein neues Land in der Dämmerung liegen,
wo stolze, gesunde Menschen ihrem Tagewerk und ihrer Muße nachgingen.
Und er sah das Lebendige und das Tote, und erkannte, dass ein Weizenkorn mehr sei als ein Goldkorn.
Und sah den Krieg und die Bitternis, und wusste, dass der Frieden ihr letztes Kind sein würde.
Und er sah, dass der Tod nur ruhendes Leben und das Endliche nur ein Widerspiel des Unendlichen ist.
Und er wuchs und tat seinen Mund auf und sagte den Pilgern, was er sah.
Und es ging ein Leuchten von ihm aus, so dass sie ihm glaubten und ihm anhingen.
Er hatte den Stern in der Mitte gläubig angesehen.

Autor: Paula Dehmel


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Und sollte ich vergessen haben, jemanden zu beschimpfen, dann bitte ich um Verzeihung!
Johannes Brahms
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 Betreff des Beitrags: Re: Advent
BeitragVerfasst: So 18. Dez 2022, 22:23 
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Einen schönen 4. Advent Euch Allen
“Der allererste Weihnachtsbaum”

Der Weihnachtsmann ging durch den Wald. Er war ärgerlich. Sein weißer Spitz, der sonst immer lustig bellend vor ihm lief, merkte das und schlich hinter seinem Herrn mit eingezogener Rute her. Er hatte nämlich nicht mehr die rechte Freude an seiner Tätigkeit. Es war alle Jahre dasselbe. Es war kein Schwung in der Sache. Spielzeug und Esswaren, das war auf die Dauer nichts. Die Kinder freuten sich wohl darüber, aber quieken sollten sie und jubeln und singen, so wollte er es, das taten sie aber nur selten. Den ganzen Dezembermonat hatte der Weihnachtsmann schon darüber nachgedacht, was er wohl Neues erfinden könne, um einmal wieder eine rechte Weihnachtsfreude in die Kinderwelt zu bringen, eine Weihnachtsfreude, an der auch die Großen teilnehmen können. Kostbarkeiten durften es auch nicht sein, denn er hatte so und soviel auszugeben und mehr nicht.
So stapfte er denn auch durch den verschneiten Wald, bis er auf dem Kreuzwege war, dort wollte er das Christkindchen treffen. Mit dem beriet er sich nämlich immer über die Verteilung der Gaben.
Schon von weitem sah er, dass das Christkindchen da war, denn ein heller Schein war dort. Das Christkindchen hatte ein langes, weißes Pelzkleidchen an und lachte über das ganze Gesicht. Denn um es herum lagen große Bündel Kleeheu und Bohnenstiegen und Espen und Weidenzweige, und daran taten sich die hungrigen Hirsche und Rehe und Hasen gütlich.
Sogar für die Sauen gab es etwas, Kastanien, Eicheln und Rüben.
Der Weihnachtsmann nahm seinen Wolkenschieber ab und bot dem Christkindchen die Tageszeit. “Na Alterchen, wie geht`s?” fragte das Christkind, “hast wohl schlechte Laune?” Damit hakte es den Alten unter und ging mit ihm. Hinter ihnen trabte der kleine Spitz, aber er sah gar nicht mehr betrübt aus und hielt seinen Schwanz kühn in die Luft.
“Ja”, sagte der Weihnachtsmann, “die ganze Sache macht mir so recht keinen Spaß mehr. Liegt es am Alter oder an sonst was, ich weiß nicht, ich hab keinen Fiduz mehr dazu. Das mit den Pfefferkuchen und den Äpfeln und Nüssen, das ist nichts mehr. Das essen sie auf, und dann ist das Fest vorbei. Man müsste etwas Neues erfinden, etwas, das nicht zum Essen und nicht zum Spielen ist, aber wobei Alt und Jung singt und lacht und fröhlich wird.”
Das Christkindchen nickte und machte ein nachdenkliches Gesicht; dann sagte es: “Da hast du Recht, Alter, mir ist das auch schon aufgefallen. Ich habe daran auch schon gedacht, aber das ist nicht so leicht.”
“Das ist es ja gerade”, knurrte der Weihnachtsmann, “ich bin zu alt und zu dumm dazu. Ich habe schon richtiges Kopfweh von den ganzen Nachdenken, und es fällt mir doch nichts Vernünftiges ein. Wenn es so weiter geht, schläft allmählich die ganze Sache ein, und es wird ein Fest wie alle anderen, von dem die Menschen dann weiter nichts haben, als faulenzen, essen und trinken.”
Nachdenklich gingen beide durch den weißen Winterwald, der Weihnachtsmann mit brummigem, das Christkindchen mit nachdenklichem Gesicht. Es war so still im Walde, kein Zweig rührte sich, nur, wenn die Eule sich auf einen Ast setzte, fiel ein Stück Schneebehang mit halblautem Ton herab. So kamen die beiden, den Spitz hinter sich, aus dem hohen Holze auf einen alten Kahlschlag, auf dem große und kleine Tannen standen. Das sah nun wunderschön aus. Der Mond schien hell und klar, alle Sterne leuchteten, der Schnee sah aus wie Silber, und die Tannen standen darin, schwarz und weiß, dass es eine Pracht war. Eine fünf Fuß hohe Tanne, die allein im Vordergrunde stand, sah besonders reizend aus. Sie war regelmäßig gewachsen, hatte auf jedem Zweig einen Schneestreifen, an den Zweigspitzen kleine Eiszapfen, und glitzerte und flimmerte nur so im Mondenschein.
Das Christkindchen ließ den Arm des Weihnachtsmanns los, stieß den Alten an, zeigte auf die Tanne und sagte: “Ist das nicht wunderhübsch?”
“Ja”, sagte der Alte, “aber was hilft mir das?” “Gib ein paar Äpfel her”, sagte das Christkindchen, “ich habe einen Gedanken”.
Der Weihnachtsmann machte ein dummes Gesicht, denn er konnte es sich nicht recht vorstellen, dass das Christkind bei der Kälte Appetit auf die eiskalten Äpfel hatte. Er hatte zwar noch einen guten alten Schnaps in seinem Dachsholster, aber den mochte er dem Christkindchen nicht anbieten. Er machte sein Tragband ab, stellte seine riesige Kiepe in den Schnee, kramte darin herum und langte ein paar recht schöne Äpfel heraus. Dann fasste er in die Tasche, holte sein Messer heraus, wetzte es an einem Buchsstamm und reichte es dem Christkindchen. “Sieh, wie schlau du bist”, sagte das Christkindchen, “nun schneid` mal etwas Bindfaden in zweifingerlange Stücke, und mach mir kleine, spitze Pflöckchen.” Dem Alten kam das alles etwas ulkig vor, aber er sagte nichts und tat, was das Christkind ihm sagte. Als er die Bindfadenenden und die Pflöckchen fertig hatte, nahm das Christkind einen Apfel, steckte ein Pflöckchen hinein, band den Faden daran und hängte den an einen Ast.
“So”, sagte es dann, “nun müssen auch an die anderen welche und dabei kannst du helfen, aber vorsichtig, dass kein Schnee abfällt!”
Der Alte half, obgleich er nicht wusste, warum. Aber es machte ihm schließlich Spaß, und als die ganze kleine Tanne voll mit rotbäckigen Äpfeln hing, da trat er fünf Schritte zurück, lachte und sagte: “Kiek, wie niedlich das aussieht! Aber was hat das alles für`n Zweck?”
“Braucht denn alles gleich einen Zweck zu haben?” lachte das Christkind. “Pass auf, das wird noch schöner. Nun gib mal Nüsse her!”
Der Alte krabbelte aus seiner Kiepe Walnüsse heraus und gab sie dem Christkindchen. Das steckte in jedes ein Hölzchen, machte einen Faden daran, rieb immer eine Nuss an der goldenen Oberseite seiner Flügel, und dann war die Nuss golden, und die nächste an der silbernen Unterseite seiner Flügel, und dann hatte es eine silberne Nuss, und hing die zwischen die Äpfel.
“Was sagst nun, Alterchen?” fragte es dann, “ist das nicht allerliebst?”
“Ja”, sagte der, “aber ich weiß immer noch nicht ....... “Kommt schon!”, lachte das Christkindchen, “hast du Lichter?”
“Lichter nicht”, meinte der Weihnachtsmann, “aber `n Wachsstock!”
“Das ist fein”, sagte das Christkind, nahm den Wachsstock, zerschnitt ihn und drehte erst ein Stück um den Mitteltrieb des Bäumchens und die anderen Stücke um die Zweigenden, bog sie hübsch gerade und sagte dann: “Feuerzeug hast du noch?”
“Gewiss”, sagte der Alte, holte Stein, Stahl und Schwammdose heraus, pinkte Feuer aus dem Stein, ließ den Zunder in der Schwammdose zum Glimmen kommen und steckte daran ein paar Schwefelspäne an. Die gab er dem Christkindchen. Das nahm einen hellbrennenden Schwefelspan und steckte damit erst das oberste Licht an, dann das nächste davon rechts, dann das gegenüberliegende, und rund um das Bäumchen gehend, brachte es so ein Licht nach dem andern zum Brennen.
Da stand nun das Bäumchen im Schnee; aus seinen halbverschneiten dunklen Gezweig sahen die roten Backen der Äpfel, die Gold - und Silbernüsse blitzten und funkelten, und die gelben Wachskerzen brannten feierlich. Das Christkindchen lachte über das ganze rosige Gesicht und patschte in die Hände, der alte Weihnachtsmann sah gar nicht mehr so brummig aus, und der kleine weiße Spitz sprang hin und her und bellte.
Als die Lichter ein wenig heruntergebrannt waren, wehte das Christkindchen mit seinen goldsilbernen Flügeln, und da gingen die Lichter aus. Es sagte dem Weihnachtsmann, er solle das Bäumchen vorsichtig absägen. Das tat der, und dann gingen beide den Berg hinab und nahmen das bunte Bäumchen mit.
Als sie in den Ort kamen, schlief schon alles. Beim kleinsten Hause machten die beiden halt. Das Christkindchen machte leise die Tür auf und trat ein; der Weihnachtsmann ging hinterher. In der Stube stand ein dreibeiniger Schemel mit einer durchlochten Platte, den stellten sie auf den Tisch und steckten den Baum hinein. Der Weihnachtsmann legte dann noch allerlei schöne Dinge, Spielzeug, Kuchen, Äpfel und Nüsse unter den Baum, und dann verließen beide das Haus ebenso leise, wie sie es betreten hatten.
Als der Mann, dem das Häuschen gehörte, am anderen Morgen erwachte und den bunten Baum sah, da staunte er und wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Als er aber an den Türpfosten, den des Christkinds Flügel gestreift hatte, Gold - und Silberflimmer hängen sah, da wusste er Bescheid. Er steckte die Lichter an dem Bäumchen an und weckte Frau und Kinder.
Das war eine Freude in dem kleinen Hause, wie an keinem Weihnachtstage. Keines von den Kindern sah nach dem Spielzeug und nach dem Kuchen und den Äpfeln, sie sahen nur nach dem Lichterbaum. Sie fassten sich an den Händen, tanzten um den Baum und sangen alle Weihnachtslieder, die sie wussten, und selbst das Kleinste, was noch auf dem Arme getragen wurde, krähte, was er krähen konnte.
Vor dem Fenster aber standen das Christkindchen und der Weihnachtsmann und sahen lächelnd zu. Als es helllichter Tag geworden war, da kamen die Freunde und Verwandten des Bergmanns; sahen sich das Bäumchen an, freuten sich darüber und gingen gleich in den Wald, um sich für ihre Kinder auch ein Weihnachtsbäumchen zu holen. Die anderen Leute, die das sahen, machten es nach, jeder holte sich einen Tannenbaum und putzte ihn an, der eine so, der andere so, aber Lichter, Äpfel und Nüsse hingen sie alle daran.
Als es dann Abend wurde, brannte im ganzen Dorfe Haus bei Haus ein Weihnachtsbaum, überall hörte man Weihnachtslieder und das Jubeln und Lachen der Kinder.
Von da aus ist der Weihnachtsmann über ganz Deutschland gewandert und von da über die ganze Erde. Weil aber der erste Weihnachtsbaum am Morgen brannte, so wird in manchen Gegenden den Kindern morgens beschert.

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3. Advent

“Die Geschichte vom Weihnachtsmarkt”


Am Tage vor Weihnachten war das Wetter hell und klar und der Schnee festgefroren. Da sagte die Tante zu den Kindern: “Heute führe ich euch auf den Weihnachtsmarkt, lasst euch schnell die Mäntelchen anziehen und die Hütchen aufsetzen!” Das brauchte sie nicht zweimal zu sagen, in einem Augenblick waren die Kinder fertig und nun ging es hinaus in den frischen, klaren Morgen. Man dachte aber gar nicht an die Kälte, denn in den Straßen war ein so geschäftiges Hin- und Herrennen, ein so hastiges Treiben, als ob der schönste Frühling angebrochen wäre. Und fast ein Frühlingsanblick war es auch, als die Tante nun mit den Kindern in die Straße einbog, welche zum Markte führt.

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Sie hielt Georg und Mathildchen an beiden Händen und so gingen sie durch zwei lange, dichte Reihen von Fichten-und Tannenbäumen aller Art, groß und klein, hell-und dunkelgrün, die sich prächtig ausnahmen und auf dem weißen, funkelnden Schnee. Um die Bäume herum war ein Drängen und Schieben, dass man kaum vorbei konnte, und überall begegnete man Leute, die ihre Bäume schon nach Hause trugen.
“Aber, Tante”, sagte Mathildchen, “ich dachte, das Christkindchen bringt alles, und nun holen sich doch da die Menschen ihre Christbäume selbst nach Hause.”
“Das ist wahr”, sagte die Tante, “aber du vergisst, dass sie das Christkind alle hierher geschickt, und unsichtbar geht es jetzt mit dem Nikolaus umher und sieht und hört alles, was hier vorgeht. Es gibt jetzt so viele Menschen auf der Welt, dass die beiden mit dem besten Willen nicht mehr alle Geschäfte allein fertig bringen können und da müssen sie sich schon von den großen Leuten ein wenig helfen lassen. Verstehst du das?”
“Ja, Tante, ganz gut”, antwortete Mathildchen und befriedigt gingen sie weiter nach dem Markte, wo eine Bude neben der andern stand, angefüllt mit begehrenswerten Herrlichkeiten. Auch da ging es munter zu und namentlich vor dem Puppenladen standen ganze Reihen von Kindern, die zusahen, wie die Puppen sich an langen Fäden hin-und herschaukelten.
Georg und Mathildchen sperrten Mund und Nase auf, die Tante aber ging bald da, bald dort an eine Bude, sprach leise einige Worte und ließ dann geheimnisvoll etwas in ihre große Markttasche gleiten.
“Tante, kaufe mir auch etwas”, bat Mathildchen, “die Puppe mit dem rosa Kleid möchte ich gerne haben, die gefällt mir!”
“Mir auch kaufen, eine Peitsche!” rief Georg. “Ihr seid klug”, sagte die Tante, ”ihr wollt also schon heute und morgen noch einmal beschert haben?” “Ja, Tante, recht gern!” rief das kleine mutwillige Volk und - was sollte die gute Tante machen? Sie kaufte die Puppe und die Peitsche und als sie erstere gerade dem Mathildchen hinreichen und in die ausgestreckte Hand geben wollte, hörte sie hinter sich sagen: “Ach, wenn doch die schöne Puppe mein wäre!” Sie sahen sich alle um, da stand ein Häuflein Kinder beieinander, vier oder fünf, die waren ganz blau und rot gefroren, denn sie hatten nur schlechte, dünne Kleider an und der Wind zerzauste ihre gelben, unbedeckten Haare. Das Kind, welches gesprochen, war ein wenig kleiner als Mathildchen und streckte immer noch die Hand nach der Puppe aus, obgleich die größeren es am Rocke zupften und ihm wehrten. Ach, es hätte doch gar zu gern auch einmal in seinem Leben eine schöne, neue Puppe gehabt, aber es waren arme Kinder, für die Niemand den Christbaum schmückte und die sich mit dem bloßen Ansehen und Wünschen begnügen.

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“Möchtest du die Puppe haben?” sagte die Tante freundlich zu dem kleinen Mädchen und Mathildchen zog sie am Kleid und flüsterte: “Liebe Tante, kaufe dem Kind doch auch eine!”
Die Tante aber schüttelte den Kopf und da das kleine Mädchen nicht antwortete, sondern jetzt verschämt wegsah, fragte sie den größten Knaben, ob sie Geschwister seien, wie sie hießen und wo sie wohnten. Er gab auf alles ordentlich Antwort, die Tante schrieb es in ihr Notizbuch, dann nickte sie den Kindern freundlich zu und ging weiter. “Aber Tante - ”sagte Mathildchen ganz erstaunt. “Komm nur schnell”, lautete die Antwort, “es ist viel zu kalt, um lange still zu stehen und wir haben noch eine Menge Geschäfte. Nicht wahr, Mathildchen, die Puppe mit dem rosa Kleid gibst du gern dem kleinen Mädchen und Georg überlässt seine Peitsche dem dicken Jungen mit der Schmutznase, der gerade so groß ist wie er?” “Ja, Tante, sehr gern!” riefen die
Kinder, “aber sie sind ja nicht mehr da, wir haben sie im Gedränge verloren!” “Nur Geduld, sie werden sich schon wiederfinden. Da hat uns das unsichtbare Christkind einen teil seiner Arbeit übertragen und wir müssen uns eilen, dass wir unsere Sache gut machen. Ihr werdet schon sehen, wie das ist.”
Nun kaufte die Tante noch allerlei hübsche Spielsachen ein, auch einige warme Kleidungsstücke, dann verschiedenes Gebackenes, Glaskugeln, Wachskerzen und zuletzt ein kleines Bäumchen, das Mathildchen zu ihrer höchsten Freude nach hause tragen durfte. Das kleine Volk verging fast vor Neugierde, was es mit all den Dingen geben sollte, die Tante sagte aber nur: “Wartet bis heute Abend!”
Der Abend kam und mit ihm die trauliche Erzählerstunde. Die Kinder saßen eng an die Tante gedrückt und Georg seufzte so recht aus Herzensgrund. “Ach, jetzt brauchen wir nur noch einmal zu schlafen” - “und dann ist das liebe Christkindchen da!” fuhr Mathildchen fort und klatschte dabei jubelnd in die Hände. “Aber Tante, was erzählst du uns denn heute?” “Heute erzähle ich euch eine Geschichte vom Weihnachtsmarkt, die ist noch viel schöner als die unsrige werden wird; hört mir recht aufmerksam zu.
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Vor vielen, vielen Jahren, als ihr noch lange nicht auf der Welt waret, ist der Weihnachtsmarkt schon eben so schön gewesen, als heute und alle Kinder der Stadt, die armen wie die reichen, gingen hin, sich die Herrlichkeiten zu betrachten. Das Christkind hatte schon damals die Gewohnheit, sich unbemerkt unter die Menge zu mischen; über sein weißes Kleid hatte es einen langen, dunklen Mantel gezogen und sein Blondköpfchen unter einer Kapuze versteckt. Niemand konnte es erkennen, und so hörte es, was die Leute miteinander redeten, was sie sich wünschten und vornehmlich achtete es auf die Kinder, ob sie sich bescheiden oder habgierig und unartig auf dem Weihnachtsmarkt benahmen. Gegen Abend kam es an eine Bude, in der waren die schönsten Kinderspielsachen des ganzen Marktes zu finden, und sie war ganz umdrängt von Kindern, die voll Sehnsucht und Bewunderung die wundervollen Puppen, die Kochherde, die zierlichen Porzellangeschirre, die Puppenmöbel, sowie die buntaufgezäumten Pferdchen, die Flinten, Trommeln und Trompeten betrachteten. Eines machte das Andere auf immer neue Wunder aufmerksam und Christkind freute sich an ihrer Freude und lachte fröhlich mit ihnen. Auf einmal sah es ganz am Ende der Bude ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren stehen, das einen schweren, zappelnden Buben auf dem Arm hielt, der fortwährend in die Höhe reichte, so dass die Kleine große Mühe hatte, ihn festzuhalten. Sie musste sehr arm sein, denn sie hatte ein ganz dünnes Röckchen an und ihre Arme waren halb entblößt, aber das Haar war ordentlich gekämmt und in zwei feste Zöpfe geflochten, unter denen ein paar dunkelblaue Augen gar gutmütig und freundlich hervorschauten. Sie lächelte bald dem Brüderchen zu, bald betrachtete sie die schönen Dinge mit einer Freude, dass man sich selbst darüber freuen musste. Christkindchen ging zu dem Mädchen, legte ihm leise die Hand auf die Schulter und sagte mit seiner süßen Stimme:
“Liebes Kind, die Sachen da gefallen dir wohl sehr gut; wähle dir etwas davon aus, was du am liebsten haben möchtest, ich will es dir zum Weihnachtsgeschenke geben.”
Das Kind war dunkelrot vor Freude, seine Augen leuchteten und durchliefen die bunte Reihe, die vor ihm prangte. Da reichte das Brüderchen wieder jauchzend mit dem Händchen empor. Das Mädchen drückte das Kind an sich, folgte seinem verlangenden Blick und sagte dann schüchtern, indem es die Augen niederschlug: “Wenn sie mir wirklich eine Freude machen wollen, so geben sie meinem Brüderchen die goldglänzende Trompete, die da oben hängt, er möchte sie gar zu gerne haben.”
Dem guten Christkind kamen die Tränen in die Augen, als es das hörte. Das war ein Kind nach seinem Sinn. Es gönnte dem Brüderchen lieber eine Freude, als sich selbst. Schnell nahm Christkind die Trompete herunter, reichte sie dem Brüderchen hin, das hell auflachte und ging weiter”:

“Da hätte doch das Christkind dem guten Mädchen auch etwas geben können!” rief Mathildchen eifrig. “Sei nur ruhig und höre weiter zu, Christkind macht es noch viel besser.

Da es alle Menschen kennt, so wusste es, dass das brave Schwesterchen, welches seinen Bruder so lieb hatte, Mariechen hieß, dass seine Eltern sehr arm waren und sie ganz am Ende der Stadt in einem alten, kleinen Häuschen wohnten.
Am nächsten Abend war Weihnacht. Schon flammten überall die Christbäume, jauchzten und lärmten die Kinder, in dem kleinen Häuschen aber war es dunkel und still. “Wir sind zu arm, wir können das Christkind nicht bestellen”, sagte die Mutter zu ihren fünf Kindern, als sie beieinander saßen und Eines derselben fragte, ob nicht das Christkind auch zu ihnen käme. Dabei weinte sie und die Kinder taten es auch. Nur der kleine Bruder war vergnügt, der schmetterte laut auf seiner Trompete und das gute Mariechen, welches das älteste der Geschwister war, weinte auch nicht und sagte: “Ach, wir sind doch vergnügt, wir haben einander ja so lieb.” Auf einmal aber ward es lebendig vor dem kleinen Hause; es klingelte so sonderbar und leise durch die dunkle Nacht und da kam ja wahrhaftig ein Eselein einhergetrabt, neben dem ging ein dunkler Mann mit einem weißen, langen Bart und auf dem Esel saß ein wunderschöner Engel, mit weißen, glänzenden Flügeln und einem lichtblauen Gewande, das war wie der Winterhimmel mit flimmernden Sternen ganz übersät. Das konnte ja wohl niemand anders sein, als unser liebes Christkind mit seinem getreuen Nikolaus. Der band das Eselchen an der Türe fest, Christkind stieg ab, machte leise die Türe auf und Nikolaus trug die schweren Tragkörbe, die er dem Esel abgenommen, in das Haus hinein. In der Küche stellte sie alles nieder, dann schellte Christkind laut und lange, dass sie drinnen in der Stube in die Höhe fuhren und nach der Türe liefen, um zu sehen, was das bedeutete. Dass es so kommen würde, hatte sich der Nikolaus schon vorgestellt; er stand darum vor der Stubentüre und rief, als sie aufging, mit seiner Bärenstimme hinein: “Es soll niemand herauskommen, als das Mariechen!”
Da flohen alle vor Furcht wieder zurück und nur Mariechen kam unerschrocken heraus und sagte: “Da bin ich, was soll ich tun?”
“Komm in die Küche!” brummte der Nikolaus jetzt etwas sanfter und als sie hineinkam, da war diese ganz gefüllt von dem wunderbarsten Glanze und Mariechen sah das Christkind leibhaftig vor sich stehen. Nun erschrak es so sehr, dass es fast umgefallen wäre, Christkind aber fasste es in die Arme, küsste es auf die Stirne und sagte: “Kennst du mich noch?” und als Mariechen erstaunt mit dem Kopfe schüttelte, fuhr es fort: “Aber ich kenne dich, so wie ich alle guten und braven Kinder kenne. Ich war die Frau, die dir gestern auf dem Weihnachtsmarkt die Trompete für den Bruder gab, weil du ihm lieber als dir eine Freude gönntest und darum komm ich, um heute auch dir ein Vergnügen zu bereiten. Weil du so gerne gibst, sollst du jetzt deinen lieben Geschwistern und deiner Mutter an meiner Stelle bescheren. Ist dir das recht?”
Das gute Mariechen schluchzte laut vor Freude: “O Christkind”, rief es, soviel verdiene ich ja gar nicht.” “Weine jetzt nicht, Mariechen, sondern eile dich, wir müssen wieder fort”, sagte Christkind, “gehe hinein in die Stube und schicke sie alle in die Kammer, damit wir anfangen können.”

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Mariechen wusste nicht, ob es träume oder wache, aber es lief hinein in die Stube und rief zwischen Weinen und Lachen:
“Macht euch schnell alle hinein in die Kammer und guckt ja nicht durch`s Schlüsselloch, es kommt etwas sehr Schönes!”
Die Mutter wollte erst fragen, aber Mariechen bat sie so herzlich, mit den Geschwistern hinein zu gehen, dass sie sich fügte. Dann schloss Mariechen schnell die Tür hinter ihnen zu, lief in die Küche, dann wieder herein und holte auf Christkindchens Geheiß ein weißes Tuch aus dem Schrank, das es über den alten, schwarzen Tisch breitete. Nun fing der Nikolaus an auszupacken und seine Siebensachen in die Stube zu schleppen. Mitten auf den Tisch stellte er einen Christbaum, der war über die Maßen schön geschmückt und mit Lichtern ganz übersät. Der Baum stand in einem Moosgärtchen, indem weideten weiße Schafe mit goldnen Halsbändern und langen, roten beinen und ein Schäfer saß auf einem Felsen und blies auf seiner
Schalmei, man hörte es aber nicht. Dann wurde um den Baum herum große Herzlebkuchen gelegt, für die Mutter und jedes der Kinder einen. Auf jedem schichtete Christkind Äpfel, Nüsse und Anisgebackenes auf und legte die Päckchen daneben, die Nikolaus ihm reichte. Da war für die Mutter ein warmes Tuch, für Gretchen ein Kleidchen und eine schöne Puppe, für Hans eine Mütze und ein Lesebuch, für Jakob ein Kittel und eine Flinte und für den kleinen Trompeter, der spaßiger Weise auch gerade Peterchen hieß, warme Schuhe und Strümpfe und ein paar wundernette Pferdchen mit roten Zäumen. Mariechen half auspacken und auflegen und war ganz außer sich vor Freude. Als sie fertig waren, sagte Christkind: “Für dich Mariechen, habe ich nichts, was meinst du dazu?” “O, liebes Christkind”, rief Mariechen und hob die gefalteten Hände in die Höhe, “ich bin doch die Glücklichste von allen; du gibst mir das Schönste und Beste, indem ich den andern bescheren und ihre Freude sehen darf.”
“Recht so, meine Kleine”, antwortete das Christkind und küsste Mariechen wieder auf die Stirne, “bleibe so gut und liebevoll und es wird dir wohl gehen auf Erden und alle Menschen werden dich lieben!”
“Wir müssen fort”, mahnte der Nikolaus, “wir sind noch lange nicht fertig.”
“Ich komme schon, alter Brummbär”, sagte Christkind, breitete seine Flügel auseinander, lächelte Mariechen noch einmal freundlich zu und - fort waren sie. Nur ganz aus der Ferne hörte man noch Eselchens Glöcklein erklingen.
In dem engen Häuschen aber erhob sich jetzt ein Jubel und Jauchzen, wie es in keinem der reichen, stattlichen Häuser froher und herzlicher gewesen. Auf Mariechens Ruf waren sie aus der dunklen Kammer herausgestürzt, standen erst einen Augenblick wie versteinert und dann brach die helle Freude los.
“Ach, was für ein schönes Kleid! - Wie, eine Flinte für mich? Ich schieß euch alle tot: Piff, Paff, Puff! - Ein Buch, ein Buch! Daraus lese ich euch vor! - Zieh Gaul, zieh!” So ging es wohl eine Viertelstunde lang ohne aufzuhören, man war fast taub von dem Lärm.
“Aber Mariechen, du hast ja gar nichts”, riefen auf einmal die Geschwister, nachdem sie sich an ihren Geschenken und dem strahlenden Christbaum satt gesehen. Die Mutter, die bis dahin nur durcheinander gelacht und geweint hatte, nahm ihr Mariechen in den Arm, küsste und drückte es fest und sagte zu den andern: “Seht ihr nicht, dass sie das Beste bekommen hat. Weil sie so gern gibt, durfte sie uns geben, und das ist immer noch zehnmal seliger als nehmen.
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Die nun die Tante schwieg, denn die Geschichte war zu Ende, blieben die Kinder noch ein Weilchen sitzen, dann sagte Mathildchen:
“Tante, ich möchte die rosa Puppe, welche du mir heute gekauft hast, gerne dem kleinen Mädchen bescheren, das wir heute auf dem Markt gesehen. Wenn wir nur wüssten, wie es heißt oder wo es wohnt!”
“Und ich will die Peitsche bescheren!” rief Georg. “Wollt ihr gerne?” sagte die Tante; “nun, das ist schön, da haben wir ja alle drei den gleichen Gedanken, und ich weiß auch, wie die Kinder heißen und wo sie wohnen. Heute Abend erlaubt euch die Mama ein Stündchen länger aufzubleiben; da sollt ihr mir eine ganze Weihnachtsbescherung für sie rüsten helfen!”
Georg und Mathildchen klatschten vor Freude in die Hände und liefen geschäftig hin und her, der Tante zu helfen. Erst wurde das Tannenbäumchen hereingebracht, welches sie auf dem Markte gekauft hatten, wurde in ein Moosgärtchen gesteckt, in dem gleichfalls rotbeinige Schafe weideten, und hernach feierlich die große Tasche herbeigeschleppt, die so viele Schätze verschlungen hatte und sie nun alle wieder herausgeben musste.
Die Kinder bekamen Nadel und Faden, damit fädelten sie die Glasperlen ein, dann wickelten sie feinen Draht um die goldenen und silbernen Nüsse und knüpften lange Seidenfäden an die Konfektstücke. Die Tante hing alles auf, befestigte die Kerzchen an dem Baume und bald stand er fertig geschmückt vor ihnen. Dann wurden die Spielsachen und Kleidungsstücke, welche die Tante besorgt, herbeigeholt, für jedes Kind ein Päckchen davon gemacht und sein Name darauf geschrieben. Dass die rosa Puppe und die Peitsche mit dabei waren, versteht sich von selbst.
Sie waren kaum fertig, als es anklopfte und eine Frau hereintrat, die gar ärmlich, aber reinlich gekleidet war. Die Tante begrüßte sie freundlich und sagte zu ihr: “Liebe Frau, da haben wir, mein Mathildchen, mein Georg und ich eine kleine Christbescherung für ihre Kinder hergerichtet. Nehmen sie alles mit sich, verstecken sie es daheim und morgen Abend, wenn es fünf Uhr schlägt, zünden sie den Kinderchen den Christbaum an, da brennt er gerade zur selben Zeit mit den unsrigen.” Die Frau war überglücklich; sie drückte die Tante die Hand, küsste Georg und Mathildchen und packte dann mit deren Hilfe alles wohl zusammen.
Nun waren aber die Kinder sehr müde, so wie die Tante auch. Sie setzte sich mit ihnen noch einen Augenblick auf das Sofa und nahm jedes in einen Arm, da sagte Mathildchen, indem es sein Köpfchen an die Schulter der Tante legte: “Tante, ich bin so vergnügt! Ich denke gar nicht mehr daran, dass morgen schon Weihnachten ist, ich meine, es habe mir schon beschert!”
“Ich bin auch vergnügt, mein Goldkind”, antwortete die Tante, “denn das gibt eine Bescherung nach meinen Sinn. Aus den großen, allgemeinen Bescherungen, wo die armen Kinder in fremden Häusern und unter den Augen von fremden Leuten in einen Saal mit einigen Christbäumen getrieben werden, wo sie sich kaum umzusehen, noch weniger sich laut zu freuen wagen, und dann, wenn sie heimkommen, ihr dunkles Stübchen noch dunkler finden, mache ich mir im Grunde nicht viel. Wenn ich ein König wäre, müsste am Weihnachtsabend in jedem Häuschen, wo Kinder sind, ein Christbaum brennen und wäre er auch nicht größer als meine Hand!” Die Tante sagte das eigentlich nur für sich, denn die Kinder hätten es doch nicht verstanden und schliefen auch schon halb.
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Als es aber wieder Abend war, da brauchte die Tante nichts mehr zu erzählen, denn da war der heilige Christ selber gekommen und hatte alle Wünsche, Träume und Hoffnungen in glückselige Wirklichkeit verwandelt. Georg und Mathildchen waren außer sich vor Freude, sie wussten kaum, was sie zuerst und am meisten bewundern sollten. Mathildchen stand vor einer herrlichen Puppenküche und war bereits in voller Tätigkeit, einen Kuchen zusammen zu rühren, da rief sie plötzlich aus ihrem Jubel heraus:
“Ach Tante, eben denk ich dran! Jetzt ist es auch hell bei den armen Kindern und beschert es bei ihnen. Das ist doch noch das Allerschönste!” “Ja, das Allerschönste!” wiederholte Georg von seinem neuen Schaukelpferde aus.

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Und sollte ich vergessen haben, jemanden zu beschimpfen, dann bitte ich um Verzeihung!
Johannes Brahms


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